Dieser Text erschien zuerst auf dem Online-Portal Infosperber.ch.

Der «totale Sieg» in Gaza, den Netanjahu nach eigenen Worten anstrebt, bedeutet für die Ultrakonservativen in Israel nicht bloss die Entmachtung der Hamas, sondern die Vertreibung der Palästinenser und die Annexion des Gazastreifens.

Viele Palästinenser befürchten seit Kriegsbeginn, dass Israel sie vertreiben wolle auf die ägyptische Halbinsel Sinai. «Genährt wird diese Furcht durch Äusserungen israelischer Politiker und Kommentatoren, die eine neue Nakba fordern oder androhen.» Das schrieb die NZZ am 15. November.

Netanjahus ultranationalistischer Minister für Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, hatte erklärt, dass der Gazastreifen «uns» gehören sollte und dass «die Palästinenser nach Saudi-Arabien oder an andere Orte wie den Irak oder den Iran auswandern können».

Anfang November berichtete der Jerusalem-Korrespondent der New York Times, Israel habe bei den USA, Grossbritannien und anderen Verbündeten vertraulich um Unterstützung dafür ersucht, eine grosse Zahl von Gaza-Bewohnern nach Ägypten umzusiedeln.

Israelische Politiker und Diplomaten hätten diesen Vorschlag mehreren ausländischen Regierungen unterbreitet und ihn als humanitäre Initiative dargestellt, die es den Zivilisten ermöglichen würde, «vorübergehend» den Gefahren des Gazastreifens zu entfliehen und in Flüchtlingslager in der Wüste Sinai zu ziehen, gleich hinter der Grenze im benachbarten Ägypten. Doch die meisten von Israels Verbündeten hätten den Vorschlag abgelehnt, weil sie befürchteten, dass eine solche Entwicklung Ägypten destabilisieren und eine beträchtliche Zahl von Palästinensern aus ihrer Heimat endgültig vertreiben könnte.

Das betroffene Land Ägypten lehnt eine vorübergehende, geschweige denn eine dauerhafte Umsiedlung ebenfalls ab. Bereits in einer Rede im Oktober hatte sich der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi deutlich gegen eine Aufnahme von Gaza-Bewohnern ausgesprochen:

«Ägypten lehnt die Zwangsumsiedlung von Palästinensern und einen Exodus auf ägyptisches Land im Sinai vollständig ab, da dies nichts anderes als eine endgültige Liquidierung der palästinensischen Sache ist.»

Die ägyptische Regierung will nicht zur De-facto-Verwalterin der Einwohner des Gazastreifens werden. Nach mehr als einem Jahrzehnt interner Unruhen, die durch den Aufstand des Arabischen Frühlings ausgelöst wurden, steckt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise und befürchtet, ein grosser Zustrom von Palästinensern könnte das Land noch mehr destabilisieren.

Zudem könnte die plötzliche Umsiedlung von Palästinensern den nördlichen Sinai in Aufruhr versetzen. Dort hat das ägyptische Militär schon heute Schwierigkeiten, islamistische Aufständische unter Kontrolle zu bringen. Auch könnten einige Palästinenser vom Sinai aus Angriffe auf Israel verüben, was Ägypten in einen Konflikt mit Israel hineinziehen würde.

Bereits Vorschläge zur Verteilung des Landes

Israels Vorschlag für eine temporäre Evakuierung von Gaza-Bewohnern schürte laut NYT unter den Einwohnern von Gaza «ein wachsendes Gefühl der Unsicherheit darüber, was mit ihnen passiert, wenn Israel am Ende seiner Militäroperationen die Kontrolle über Teile oder den gesamten Gazastreifen übernimmt, und sei es nur vorübergehend».

Für Aufregung hatte ein Parlamentarier der rechtsnationalen Likud-Partei gesorgt: Ariel Kallner forderte eine weitere Nakba, welche die ursprüngliche Massenvertreibung von 1948 in den Schatten stellen werde. «Im Moment gibt es nur ein Ziel: Nakba!», erklärte Kallner am 8. Oktober. Mit dieser Forderung ist Kallner nicht allein. Laut NYT fordern einige Mitglieder von Netanjahus Koalition, beispielsweise Sicherheitsminister Ben-Gvir, sowie Beamte seiner Regierung ausdrücklich die dauerhafte Vertreibung oder Umsiedlung der Palästinenser aus dem Gazastreifen.

Schliesslich wurde am 13. Oktober in Israel ein Bericht des israelischen Geheimdienstministeriums publik, der «die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Gazastreifen in den Sinai» empfiehlt. Das Büro des Premierministers bestätigte die Echtheit des Dokuments, erklärte aber, es handle sich nur um ein «vorläufiges Papier» und eine «hypothetische Übung». Doch die Regierung erklärte bei dieser Gelegenheit nicht, dass eine Umsiedlung nicht in Frage komme.

Im Gegenteil: Amihai Elijahu, rechtsextremer Minister für Heimaterbe im Kabinett Netanjahu, spekulierte am 1. November darüber, wem das neu gewonnene Land in Gaza zugeteilt werden könnte: Man solle es an ehemalige israelische Soldaten vergeben, die im Gazastreifen kämpften, oder an ehemalige israelische Siedler, die in der Enklave lebten, bevor Israel sich 2005 aus dem Gebiet zurückzog, schlug Elijahu vor. Das Schweizer Fernsehen interviewte eine dieser jetzt in Israel lebenden ehemaligen Siedlerfamilien. Der Vater zeigte den sorgsam aufbewahrten Schlüssel ihres damaligen Hauses in Gaza. Er sei bereit für eine mögliche Rückkehr.

Zur Zukunft des Gazastreifens stellte die NZZ am 10. November fünf Szenarien vor. Eines davon war die «Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung»:

«Israel könnte auch darauf setzen, grosse Teile der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen zu vertreiben. Rechte Politiker und Kommentatoren fordern seit Wochen ganz offen eine zweite Nakba – also die massenhafte Vertreibung der Palästinenser. Bereits jetzt sind im zerbombten Küstengebiet laut den Vereinten Nationen rund 1,5 der 2,3 Millionen Einwohner intern vertrieben worden. ‹Für sie gibt es keinerlei wirtschaftliche Perspektiven. Da entsteht ein enormer Druck. Irgendwann werden diese Menschen – egal, wie – versuchen zu fliehen›, sagt Nahostexperte und Historiker René Wildangel.»

Israel betreibt eine Politik der vollendeten Tatsachen 

Schon seit vielen Jahren unternehmen israelische Regierungen vieles, eine Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern. Im Westjordanland sind die Siedler strategisch an so vielen Orten verteilt, dass dort ein unabhängiger Staat Palästina kaum mehr realisierbar ist. Die USA, welche Israel mit den mordernsten Waffen versorgen und das Land mit Milliarden unterstützen, kritisierten die völkerrechtswidrige Siedlerpolitik jeweils nur mit Worten, tolerierten sie aber.

Israel seinerseits unternahm nichts gegen die terroristische Hamas in Gaza und deren arabischen Geldgeber, weil die Existenz der Hamas eine Garantie dafür war, dass es zu keinen Verhandlungen für eine Zwei-Staaten-Lösung kommt (siehe: «Netanjahu hat die Hamas für seine Strategie missbraucht»).

Niemand will den zerbombten Gazastreifen verwalten

Gegenwärtig zerbombt Israel die bereits vorher prekäre Lebensgrundlage der 2,3 Millionen Palästinenser im Gazastreifen. Israel weiss, dass weder die Autonomiebehörde im Westjordanland noch arabische Golfstaaten noch die Uno noch europäische Länder im zerstörten Gazastreifen die Gewaltaufsicht, die Verantwortung für die Zivilbevölkerung und den Wiederaufbau übernehmen wollen. Der Ball bleibt bei Israel.

  • Israel wird im Gazastreifen keine Verbündeten finden, denen es die Macht übergeben kann.
  • Eine längere militärische Besatzung kommt für Israel nach eigenen Angaben aus Sicherheitsgründen auch nicht in Frage. Tausende Soldaten sähen sich einem feindlichen Umfeld gegenüber und müssten einen Guerillakrieg mit Islamisten führen. Als Besatzungsmacht wäre Israel zudem für den Gazastreifen völkerrechtlich verantwortlich und müsste für die Versorgung der notleidenden palästinensischen Zivilbevölkerung sorgen.

Manche Kommentatoren kritisieren, dass Israel für die Zeit nach Kriegsende keine Strategie habe oder bekanntgebe. Falls jedoch das Ziel von Israels Regierung darin besteht, die Palästinenser umzusiedeln und das Land für Israelis freizumachen, dann wird Netanjahu zu diesem Ziel nicht öffentlich stehen. Die Regierung wird vielmehr versuchen, mit vordergründig anderen Motiven Tatsachen zu schaffen, um dieses Ziel zu erreichen.

Die «geschaffenen Tatsachen» sind dann folgende: Hunderttausende Frauen, Kinder und Jugendliche, die verdursten, verhungern und von Seuchen heimgesucht werden; viele Schwerverletzte und Kranke, die keine Hilfe mehr erhalten: eine seit langem nicht mehr dagewesene humanitäre Katastrophe vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Der Druck wird enorm zunehmen, dass Ägypten und andere arabische Staaten die Gaza-Einwohner bei sich aufnehmen. Eine Milliarden-Entschädigung für Ägypten könnte dazu beitragen, dass Israel dem Ziel der Ultrakonservativen näherkommt: Ein Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan.

Aus dem Koalitionsvertrag der israelischen Regierung: Anspruch auf das Westjordanland

Im Koalitions­rahmenvertrag heisst es bereits im ersten Satz: «Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräusserliches Recht auf alle Teile des Landes Israel – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.» Judäa und Samaria ist die israelische Bezeichnung für das Westjordanland. Im Koalitionsvertrag (§ 118) mit dem Reli­giösen Zionismus steht, dass der Premier eine Politik für die Übertragung der «Souveränität» (sprich Annexion) des Westjordanlands konzipieren soll.

Darauf hatte die «Stiftung Wissenschaft und Politik» SWP im Januar 2023 hingewiesen und schrieb:

«Likud-Politiker Levin formulierte, an welcher Strategie sich die Koalition hier orientieren sollte, wenn nicht offiziell annektiert wird: Die Regierung müsse versuchen, ‹ein Maxi­mum an Territo­rium zu halten und die Souveränität über ein Maximum an Terri­torium auszuüben, während die arabische Bevölkerung in diesem Gebiet auf ein Mini­mum beschränkt wird.› Damit beschrieb Levin einen Prozess, den man als De-facto-Annexion bezeichnen kann, nämlich die rechtliche Integration von Siedlungen und Siedlern in das israelische Rechtssystem, obwohl im Westjordanland Besatzungsrecht herrscht und somit der Oberbefehlshaber der zuständigen Militäreinheit dort auch völkerrechtlich der Souverän ist […]

Der Likud hat bereits angekündigt, dass die neue Regie­rung eine Reform zur ‹staatsbürgerlichen Gleichstellung der Siedler› durchführen werde, ohne aber den legalen Status der Territorien zu verändern.»