Die NZZ hat am 25. Mai einen Text über den Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, veröffentlicht, in dem auch behauptet wird, dieser «umgarne» regelmässig den Chef der Springer-Gruppe, Mathias Döpfner, «auch wenn er dessen transatlantische Weltsicht nicht teilt». Man verstehe sich, so heisst es, denn beide seien es gewohnt, «angefeindet» zu werden.

Im publizistischen «Shitstorm» zu stehen, mag eine verbindende Erfahrung sein; als Autor, dessen regierungskritische, öfters schonungslose Texte regelmässig in der Berliner Zeitung und auch schon in der Welt erschienen sind, sehe ich aber eine wichtigere Gemeinsamkeit zwischen Döpfner und Friedrich: Beide halten an klassischem Journalismus fest.

Gerade das stört die beiden Autoren der NZZ nun an Holger Friedrich. Ihr Text bietet Gelegenheit, einige grundsätzliche Anmerkungen zum Journalismus in der offenen Gesellschaft zu machen und diese mit dem Vorgehen der NZZ-Redakteure abzugleichen.

Was soll der Journalismus?

Offizielle oder auch nur insinuierte Denkverbote sind einer offenen Gesellschaft wesensfremd. Journalismus soll Öffentlichkeit schaffen für alle nicht menschenrechtswidrigen Positionen zu allen wesentlichen Fragen der Zeit. Aber die Meinungsfreiheit zu respektieren und Meinungsvielfalt zu bieten, ist noch nicht hinreichend.

Ohne Informationsvielfalt verkommt Meinungsvielfalt zur Farce. Der Journalismus hat deshalb auch die Aufgabe, einfach sauber über eine möglichst breite Themenpalette zu berichten – und dabei dort, wo es völlig unterschiedliche Beschreibungen und Bewertungen derselben Angelegenheit gibt, dies dem Leser und Zuschauer auch möglichst neutral darzustellen. Besonders bei hochkontroversen Themen ist dies entscheidend, möchte man die Mündigkeit und Urteilsfähigkeit der Leser respektieren.

Im medialen Panorama der Welt, das Journalisten erzeugen, sollen die Menschen ihre Lebenswirklichkeit und ihre Ansichten wiederfinden – und auch Neues und für sie Ungewohntes sehen, was ihren bisherigen Kenntnissen und Vorurteilen widerspricht. Guter Journalismus ermöglicht den Menschen in der Summe vieler Medienangebote eine wirklich eigene Meinungsbildung zu den Fragen der Zeit aufgrund breiter Information.

Der Journalismus steht mit dieser Aufgabe, Garant wohlinformierter Meinungsbildung zu sein, in einem harten Kampf gegen tausend Tendenzakteure im Meinungsraum: Die Fokussierung der Diskussion auf eine einzige, meist regierungsfreundliche Erzählung zu erreichen, ist das Ziel von Ministerialsprechern und Kommunikations-Beratern aller Art.

Die Entschärfung und Vereinheitlichung der Debatte im Sinne der Mächtigen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu verhindern, ist Aufgabe der freien Presse. In diesem Sinne ist sie nicht nur der Informationsbeschaffer und Kommentator der Gesellschaft, sondern auch der Anwalt des mündigen Bürgers gegen Propagandisten jeder Art.

Was praktiziert NZZ im Artikel über Friedrich?

Die Indoktrination der Bürger im Sinne einer bestimmten Agenda ist nicht Sache von Journalisten, die sich der offenen Gesellschaft verpflichtet sehen. Sie ist aber eindeutig das Anliegen der NZZ im eingangs erwähnten Stück über Holger Friedrich.

Statt Meinungsvielfalt und Informationsvielfalt stark zu machen, arbeiten sie in ihrem Text mit teilweise perfider rhetorischer Manipulation an der moralischen Zensur des Meinungsraums. In wohl unfreiwillig komischer Weise spielen sich die Autoren dabei als Schiedsrichter des Sagbaren auf. Wir würdigen ihre Ausführungen schlaglichtartig.

Der bestürzend simple, boulevardeske Ton setzt schon in der Titelunterschrift ein: «Man nennt [die Berliner Zeitung] ein Organ für Putin-Versteher und eine Gefahr für den Journalismus». Man nennt sie so, nicht etwa NZZ-Redakteure tun das; etwas später im Text wird man auch noch als «die Konkurrenz» bezeichnet, die sich dann etwas dünn als ein Taz-Kommentator entpuppt, der in einer Kolumne mit dem ganz unironischen Titel «Enteignet die Putin-Versteher!» seine ganze … nennen wir es Eloquenz daranwendet, es für verboten zu erklären, an einem russischen Botschaftsempfang teilzunehmen und dann darüber zu schreiben.

Die NZZ-Autoren geben dann gleich zu Beginn des Textes dem Leser durch ein Verfahren, das mir von meinen kleinen Töchtern als Assoziationsbingo wohlbekannt ist, zu verstehen, dass – jetzt genau aufpassen – der Alexanderplatz in Berlin eine «ostalgische Umgebung» ist (also eine Umgebung, die die Charaktereigenschaft besitzt, sich nach der DDR zurückzusehnen).

Somit ist dann auch assoziativ ausgemacht, dass die Rückkehr der Berliner-Zeitungs-Redaktion in ein dortiges Osthochhaus «symbolisch» sei, denn schliesslich unterstellt wiederum man ja der Berliner Zeitung «immer wieder allzu grosse Nähe zum Kreml». Natürlich: Zürich ist ja auch, wie man weiss, eine «geldselige» Umgebung, und dass die NZZ dort residiert, nun, das ist eben «symbolisch», denn man unterstellt ja der NZZ «immer wieder allzu grosse Nähe zu Banken.

Neben solchem – ich bitte um Verzeihung – Kolportagemüll werden im ganzen Text Annahmen gemacht, die dem zuvor skizzierten Journalismus-Verständnis vollkommen widersprechen. So soll eine gute Zeitung für die NZZ-Autoren bitte nicht «politisch unberechenbar» oder gar «provokativ» sein. Ich danke für diese Klarstellung. Lieber also berechenbar schreiben und den Ball schön flachhalten. Ist notiert!

Aber ernsthaft: Was jemand als «unberechenbares» oder «provokantes» Gebaren einer Zeitung empfindet, hängt davon ab, womit er gewohnheitsmässig rechnet. Denkgewohnheiten zu verunsichern und neue Erkenntnisse zu ermöglichen (zu «provozieren», was bedeutet: hervorzurufen) ist Aufgabe eines anspruchsvollen Journalismus. Es sei denn, man weiss schon alles und muss deshalb bloss noch verkünden …

Ihren antijournalistischen Offenbarungseid fasst die NZZ für den aufmerksamen Leser in einem einzigen Satz zusammen: «Für Irritation sorgt, dass die Zeitung Leute wie Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ohne kritische Einordnung zu Wort kommen lässt.» Wie in einem Brennglas zeigt diese Bemerkung, wie die beiden NZZ-Redakteure Journalismus verstehen – als Volkserziehung.

Ein ehemaliger Bundeskanzler will etwas sagen? Nun ja, so erwägt man heute bei der NZZ, hoffentlich sagt er das Richtige! Sonst muss man es eben als Blattmacher «kritisch einordnen», um zu zeigen, dass man selbst das keineswegs denkt, sondern die richtige Meinung hat … die wer noch einmal festlegt? Ja natürlich: die Redakteure der NZZ – die Volkspädagogen, die uns durch «kritische Einordnung» davon abhalten, ideologisch unbetreut Meinungen abseits der Zürcher Blattlinie zu entwickeln.

Was ist daraus zu lernen?

Wem anhand solcher Beispiele nicht klar wird, dass Haltungsjournalisten, wie sie die NZZ hier agieren lässt, Meinungsvielfalt gar nicht wollen und deshalb Informationsvielfalt für entbehrlich halten, dem wünsche ich weiter fröhliche Lektüre der NZZ und anderer Organe, die es sich zur Aufgabe machen, die von ihnen erkannte wahre politische Wahrheit gegen Abweichler in Schutz zu nehmen.

Ich meine: Weder die Leser der ansonsten meist niveauvollen NZZ noch andere mündige Bürger bedürfen sprachlich manipulativer Gesinnungserziehung, wie sie die NZZ ihnen überhilft. Demokratie ist, wo kultivierter Streit herrscht. Und Journalismus wird geübt, wo dieser ganze Streit ohne anmassendes Bevormundungs- und Zurechtweisungsgehabe abgebildet, analysiert und kommentiert wird.

Michael Andrick ist promovierter Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Seine Texte erschienen unter anderem in Freitag, DLF Kultur und Cicero.