Berlin

Als ob Deutschland nicht schon genügend Probleme und schlechte Nachrichten hätte, stürzt nun auch noch in Dresden eine Brücke ein. Zum Glück kamen keine Menschen zu Schaden, obwohl offenbar nicht allzu lange davor noch eine Strassenbahn das baufällige Konstrukt passiert hatte. Die in der Elbe liegenden Trümmer sind ein Symbolbild zum Zustand eines Landes, in dem nichts mehr zu gehen scheint. Entsprechend apokalyptisch fallen jetzt die Deutungen aus. Sie haben ja alle recht. Trotzdem erlaube ich mir hier einen etwas anderen Akzent. Die eingestürzte Carolabrücke ist ein Weckzeichen. Es wird schwerfallen, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. 

Für mich steht der Brückenkollaps für eine sich seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten vollziehende Verwahrlosung der Politik. Es begann wohl schon in den siebziger Jahren, setzte sich fort unter CDU-Kanzler Helmut Kohl, mündete zwischenzeitlich in die Agenda-Reformen der Ära Schröder, ehe Kanzlerin Merkel vor dem Zeitgeist kapitulierte, den Staat immer mehr ausufern liess, die Eigenverantwortung stutzte und ihre Partei, die CDU, auf einen Kurs des progressiven linken Mainstreams kalibrierte. In dem Mass, in dem der Staat immer neue Aufgaben an sich riss, wurde er desto weniger damit fertig. Wer alles machen will, macht nichts mehr richtig.  

Man sagt, Deutschland sei das Land der Dichter und Denker, neuerdings der Kinderbuchautoren. Das ist nicht falsch, aber es ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Deutschland ist, war vor allem das Land der Tüftler, der Chemiker, der Physiker und der Ingenieure. Letztere haben den Wohlstandsvulkan des 19. und 20. Jahrhunderts gezündet. In die Geschichtsbücher ging diese Ära als «das nervöse Zeitalter» ein, weil die Dynamik so gross war, dass sie sogar die Deutschen überforderte. Nicht Ethnologen, Gleichstellungsbüros oder Genderbeauftragte schufen die Grundlagen eines weltweit bewunderten Wachstums. Es waren jene Berufe, von denen man das Gefühl hat, sie seien heute in Deutschlands Politik krass untervertreten.

Das Gleiche gilt natürlich für die Nachkriegszeit. Damals lag Westdeutschland am Boden. In Bonn regierte eine Riege kriegserfahrener Männer aus der Realität, keine Hipster mit Dreitagebart und einem Body-Mass-Index unter 23. Den ideologischen Firlefanz späterer Jahre konnte man sich in dieser Zeit der Not nicht leisten. Also richteten Adenauer, Strauss, Erhard und Co. die neugegründete Bundesrepublik nach erprobten, erfolgreichen liberalkonservativen Konzepten aus. Die soziale Marktwirtschaft, die sozial war, weil sie vor allem marktwirtschaftlich war, diente als Richtschnur. Damit schafften die Trümmermänner das deutsche Wirtschaftswunder.

Aber nichts ist schwerer zu ertragen als eine Folge von guten Tagen. Deutschland war so erfolgreich, dass es sich durch seinen Erfolg narkotisieren liess: immer mehr Staat, immer weniger Freiheit. Der Staat sollte gefälligst die Lebenslasten seiner Bürger tragen. Schon vor zwanzig Jahren schrieben wir gegen diesen Zeitlupenabsturz in den Sozialismus an. Graf Lambsdorff oder Guido Westerwelle, beide FDP, hielten brillante Reden gegen die ausufernde Regulierung, den Staatsausbau und die steigende Besteuerung. Kanzlerin Merkel wischte das weg. Deutschland sei ein sozialdemokratisches Land. Mit einer liberalen Politik würde sie sofort abgewählt. 

Vielleicht wäre das für Deutschland rückblickend gar nicht so schlecht gewesen. Aber in einem Punkt hatte die Physikerin recht. Der Linksrutsch kam nicht aus dem Nichts. Er fiel nicht vom Himmel. Die Deutschen haben diese Richtung gewählt – oder zumindest nicht verhindert. Heute schimpfen viele auf die Linken und die Grünen. Aber es war die CDU, es war auch eine immer quecksilbriger und modischer surfende CSU, die sich der grün-roten Mode anbiederten, ihre Grundsätze über Bord warfen und damit letztlich jene Verschiebung des politischen Gleichgewichts nach links herbeiführten, die schliesslich zum Entstehen einer AfD beitrug. 

Wenn Brücken zusammenbrechen, muss man als Gesellschaft in sich gehen. Das ist so, wie wenn einem Menschen auf einmal die Zähne ausfallen. Etwas stimmt nicht mehr. Was ist die Botschaft der aus der Elbe ragenden Brückenstummel? Vielleicht die: Deutschland braucht mehr Ingenieure und weniger Kinderbuchautoren. Es wäre gut, hätte es im Reichstag mehr Leute, die aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, das Geld selber zu verdienen, bevor man es ausgibt. Auch die Schulen und Universitäten wären anzuschauen. Kann es sein, dass auch Deutschland zu viele arbeitslose Akademiker produziert und zu wenig Leute, die eine Ahnung davon haben, wie man Brücken baut?

In die ganze Welt verschenken die deutschen Behörden das Geld ihrer Steuerzahler. Milliarden fliessen in die Ukraine. Unsummen an Entwicklungshilfe sollen die Migration bremsen. Doch die Asylanten kommen trotzdem – und kassieren noch einmal. Die fiskalischen Gesamteinnahmen sind heute um 47 Prozent höher als vor zehn Jahren. Trotzdem reicht es nicht zur Pflege und Aufrechterhaltung elementarer Infrastrukturen. Die Brücke von Dresden ist auch das Sinnbild eines Staates, der vor lauter Solidarität mit den Ausländern seine Bürger vergisst. Da darf man sich nicht wundern, kündigen immer mehr Deutsche der Berliner Elite das Vertrauen.  

Abgesehen davon, dass die Schweizer Brücken noch halten, könnte man so einen Artikel auch über die Eidgenossen schreiben. Wir Schweizer machen die gleichen Fehler wie die Deutschen, einfach zeitverzögert und nicht so gründlich. Zu Hochmut besteht kein Grund. Wenn in Deutschland die Brücken einstürzen, muss sich auch die Europäische Union, muss sich ganz Europa Gedanken machen. Denn Deutschland ist trotz allem immer noch das Rückgrat, das wirtschaftlich solideste Land in der EU. Das traurige Bild von Dresden ist ein Denkmal politischer Verlotterung. Es zeigt einen Staat, der sich nicht mehr im Griff hat. Wachen die Deutschen jetzt auf? Schaden macht klug.