Der Gesetzgeber kann die Macht, Gesetze zu erlassen, in keine andere Hand legen. Denn als lediglich delegiertes, vom Volk eingesetztes Gremium ist seine Macht nicht übertragbar.

John Locke

Mit der eingangs zitierten Warnung richtete sich John Locke (1632–1704) an die Adresse des englischen Parlaments, nachdem dieses am Ende des 17. Jahrhunderts zur zentralen politischen Instanz im Königreich aufgestiegen war. Die neuen De-facto-Herrscher von Westminsters Gnaden sollten der Versuchung des Absolutismus widerstehen, denn dafür brauchte es nach Locke nicht unbedingt einen Sonnenkönig. Nun war der neben Montesquieu wichtigste Philosoph der Aufklärung bekanntlich kein Demokrat im modernen Sinne. Doch das Problem, das er benannte – die Gefahr des Machtmissbrauchs im Staat durch seine verfassungsmässig legitimierten Gewalten –, inspiriert bis heute auf der ganzen Welt die Verteidigung demokratischer Gesellschaften.

Schweiz klein, Europa gross

Locke kleidete seine Warnung in Form eines Gleichnisses: Eure Macht ist kein Grundbesitz, sie beruht auf einem Lehensvertrag. Anders gesagt: Ein geborgtes Gut ist nicht veräusserbar, ein wertvolles Geschenk gibt man nicht weiter. Damit erklärte der aus dem englischen Südwesten stammende Philosoph die Anerkennung der neuen Souveränitätsidee zur Grundlage von Rechtssicherheit. Dass das von Locke angerufene Volk damals als politisch aktive Bürgerschaft erst in Ansätzen existierte, ändert nichts an der Aktualität des Grundsatzes.

Lockes Verständnis von Rechtssicherheit hat mit jenem, das im Schweizer Aussendepartement vorherrscht, ganz offensichtlich kaum etwas gemein. Zumindest gelangt zu diesem Schluss, wer das Interview liest, das dessen Vorsteher kurz vor Weihnachten der NZZ gab. Darin bemühte Ignazio Cassis jenes Schweiz-Bild, das schon die Kampagne für das Rahmenabkommen scheitern liess.

Das dazugehörige Mantra: Die Schweiz ist klein, und Europa ist gross. Wir müssen uns den Wünschen der EU fügen, sonst werden wir als Volkswirtschaft abgehängt und zementieren unseren Status als Sonderling im Zentrum Europas. Je integrierter, desto besser.

Selbstverzwergung als Leitstrategie der Europapolitik ist nichts Neues. Aufhorchen lässt indessen, was Cassis zu den Voraussetzungen künftiger Verhandlungen mit der EU sagte: «Der Rahmenvertrag ist die Basis für die Diskussionen. Es wäre unrealistisch, ein ganz neues Modell für die Streitbeilegung zu erwarten.» Mit anderen Worten: Der Ansatz der institutionellen Harmonisierung – mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Letztentscheidungsinstanz – soll bei den bevorstehenden Verhandlungen als Grundlage dienen.

Doch man sollte das Problem nicht übermässig personalisieren. Das Bild, das der fürs Europadossier zuständige Bundesrat von der Schweiz zeichnet, entspricht hierzulande vielerorts dem unhinterfragten Standard. Viele plagt ein schlechtes Gewissen, weil die EU-Kommission und ihre Vertreter ihre Unzufriedenheit seit langem offen zur Schau stellen. Dass die EU die Schweiz beim Forschungsprogramm «Horizon» diskriminiert, können jene, die das Argumentarium Brüssels bis in die Sprachregeln internalisiert haben, problemlos nachvollziehen. Sie sehen hier nicht die Arroganz einer machiavellistischen Macht am Werk. Sie betrachten den Ausschluss vom EU-Forschungstopf vielmehr als Beweis dafür, dass die Eidgenossenschaft ihr europäisches Klassenziel erneut verfehlt hat. Dass die Schweiz und Grossbritannien bei der Forschung die meisten europäischen Universitäten in den Schatten stellen, passt nicht in ihr konformistisches Verständnis von Fortschritt. Fakten sind so lange willkommen, wie sie die politischen Ambitionen nicht stören.

Worum geht es beim angestrebten Rahmenabkommen 2.0 im Kern? Wäre ich Ökonom, würde ich darauf hinweisen, dass unfriendly takeovers nur Sinn ergeben, wenn der Bewerber mehr bietet als einen ausgewiesenen Willen zur Macht. Der designierte neue Eigentümer sollte auch fitter sein als der Übernahmekandidat. Viele der relevanten Daten sind frei verfügbar: etwa zur Staatsverschuldung oder zum Arbeitsfrieden, zur Produktivität oder zum Zusammenspiel von Ausbildung und Arbeitsmarkt, zum Bürokratisierungsgrad oder zur wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit, zur Zufriedenheit der Menschen oder zum Wohlstandsniveau. Auch wenn die Schweiz nicht in all diesen Bereichen obenaus schwingt, so hat sie doch bei der Mehrzahl die Nase deutlich vorn. Auch die Frage, ob eine andauernd hohe Zuwanderung die Produktivität einer Volkswirtschaft langfristig steigert oder ob ein kanadischer, selektiver Ansatz für Gesellschaft und Arbeitsmarkt nicht nachhaltiger wäre, müsste offen diskutiert werden. Wichtige Anhaltspunkte dafür finden sich in der vom Luzerner Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) vor einigen Wochen vorgelegten Handelsstudie.

Anders als von Ignazio Cassis behauptet, nimmt zudem der Anteil der EU am Aussenhandel mit der Schweiz seit Jahren nicht zu, sondern ab. Auch stellt sich die Grundsatzfrage, ob institutionelle Integrationsabkommen den Freiheitsgrad einer offenen Volkswirtschaft nicht auf unzulässige Weise einschränken.

Doch da ich Historiker mit Interesse an staatspolitischen Fragen bin, möchte ich bei der Frage der Rechtssicherheit bleiben. Jene, die sich eine engere institutionelle Anbindung an die EU wünschen, bringen diesen Begriff immer wieder prominent ins Spiel. Unter ihnen sind viele Exponenten der Wirtschaft (vor allem die Manager von Grosskonzernen), Politiker und nominell liberale Think-Tanks. Sie verbinden Rechtssicherheit vorab mit der Verlässlichkeit der Regeln, die für die Industrie, den Handel und die Finanzindustrie gelten. Ihr Motiv besteht darin, die Transaktionskosten im Interesse der Profitabilität möglichst tief zu halten. Sie betonen bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit eines level playing field. Als ob ein funktionierender Wettbewerb der wirtschaftlichen Produktivität und damit den Bürgern eines Landes mittelfristig nicht mehr bringen würde als die transnationale Harmonisierung.

Schwächung des Politischen

Staatspolitisch gesehen, operiert die angesprochene Idee der Rechtssicherheit in einem Niemandsland. Und genau das macht sie hochpolitisch. Denn Rechtssicherheit läuft hier auf die Forderung hinaus, sich mit der EU auf möglichst unverrückbare Regulative zu einigen. Ziel ist ein rechtlicher Automatismus – ein transnationaler Hebel zur möglichst weitgehenden Ausschaltung der Innenpolitik. Doch weil eine solche Forderung in der halbdirekten Demokratie schlecht ankommt, beruft man sich auf die Rechtssicherheit. Der Begriff klingt nach distanzierter Sachlichkeit, er eignet sich deshalb ausgezeichnet als politisches Beruhigungsmittel. Dabei müsste man sich verstärkt auch über die Risiken und Unwägbarkeiten unterhalten, die man sich mit einer institutionellen Anbindung an die EU einhandelt. Das geschieht allerdings kaum, denn die Leute sollen sich keine Sorgen machen. Sie sollen sich, zum Wohle der Weltoffenheit, beruhigen.

Was sich plausibel anhört, läuft staatspolitisch auf eine Schwächung des Politischen hinaus. Geht es beim angestrebten Automatismus doch darum, die Beziehungen zur EU – ganz im Sinne ihrer Kommission – dem demokratischen Prozess zu entziehen. Referenden wären dann zwar formal noch zugelassen, jedoch stets durch eine Moralkeule bedroht. Jene Nationen, die bei den europäischen Verträgen in den letzten Jahrzehnten aufzumucken wagten, bekamen diese Keule jeweils sofort zu spüren: nicht nur von den Berufseuropäern in der EU-Kommission, sondern auch von ihren eigenen Regierungen und Parlamenten, die sich bei den hastig anberaumten Strafreferenden jeweils, ob aus Überzeugung oder Opportunismus (meist spielte beides mit), mit Brüssel solidarisierten, indem sie ihre Bürger zur Vernunft aufriefen.

Anders als Cassis behauptet, nimmt der Anteil der EU am Aussenhandel seit Jahren nicht zu, sondern ab.

Die Frage, ob Demokratien durch politische Trauerspiele dieser Art beschädigt werden, muss leider bejaht werden. Wobei der Schaden nicht von heute auf morgen eintritt, sondern mit der zunehmenden Dauer der Negierung der partizipatorischen Demokratie durch technokratisch denkende Berufspolitiker und Regierungen. In gewissen Ländern kann man die Bürger offensichtlich in die Wahllokale zitieren, bis sie so stimmen, wie es die Regierung von ihnen erwartet. In der Schweiz jedoch dürften Strafreferenden à la Irland für die Classe politique mit beträchtlichen Kosten verbunden sein. Politiker, die ihre Mitbürger mit alternativlosen Visionen zu ihrem Glück zwingen möchten, sind hierzulande nicht besonders beliebt.

Das bringt mich zum wichtigsten Punkt: Was gewisse Exponenten unserer Wirtschaft im Verbund mit EU-affinen Kreisen Rechtssicherheit nennen, entspricht, staatspolitisch gesehen, dem puren Gegenteil. Und genau hier gewinnt John Lockes eingangs zitierter Satz an Bedeutung. Der englische Philosoph plädierte keineswegs für die Alleinherrschaft des Volkes. Er warnte lediglich vor dem Risiko des von Thomas Hobbes geforderten Super-Souveräns, also vor jener mit unbeschränkter Macht ausgestatteten Gewalt. Wer auch immer sich fortan zum Herrscher aufschwingen würde – ob Parlament, Exekutive oder hohes Gericht –, sollte fortan der Legitimität entbehren.

Kompetenz-Kompetenz

Diese Diskussion ist heute in Europa wieder besonders aktuell. Denn in der EU dominieren die politisierten Gerichte in einer Weise, die Lockes Super-Souverän sehr nahe kommt. Manche Professoren an Europa-Instituten werden hier einwenden: Die Macht, sich neue Kompetenzen anzueignen, die sogenannte Kompetenz-Kompetenz, liegt in der EU noch immer bei den Mitgliedstaaten. Was formal zutrifft, stimmt faktisch nur noch sehr bedingt. Das kann man bei wirklich distinguierten Rechtsgelehrten wie Dieter Grimm oder klugen britischen Ex-Richtern wie Jonathan Sumption nachlesen. Mit dem EuGH (und nun auch der Europäischen Zentralbank) besitzt die EU heute Organe, die die Souveränität der Mitgliedstaaten in vielen Bereichen aushebeln können. Dank der seit den 1960er Jahren betriebenen Konstitutionalisierung der europäischen Verträge hat der EuGH seine Machtposition ständig ausgebaut. Es handelt sich hier (wie auch beim Strassburger Gerichtshof) um ein Gericht im Dienst eines politisch definierten Endziels.

Wer sich für Rechtssicherheit in der Demokratie interessiert, dem empfehle ich den 1995 publizierten Aufsatz von Hildrun Abromeit. Darin unterscheidet die deutsche Politologin zwischen verschiedenen Konzepten der Souveränität. Im Zentrum steht die Frage: Wer kann dem Gesetzgeber die Zustimmung verweigern? Liegt das Letztentscheidungsrecht bei einer Regierung, einem Gericht, oder sind es die Stimmbürger, die ein Gesetz zurückweisen können? Der Befund der Politologin lautet, pointiert gesagt: Im britischen System hält ein mächtiges Parlament die meisten Trümpfe in der Hand. In Deutschland ist die Verweigerungskompetenz im Sinne eines Letztentscheidungsrechts dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, wobei sich dies in den letzten beiden Jahrzehnten bekanntlich zum EuGH hin verschoben hat. In der Schweiz können die Stimmbürger ein gewichtiges Veto einlegen. Tendenziell, so Abromeits Befund, garantiert ein skeptisches Volk, das bei Bedarf das Referendum ergreift oder eine Initiative lanciert, mehr Berechenbarkeit als ein Verfassungsgericht oder ein übermächtiges Parlament.

Widerspenstige Bürgerdemokratie

Wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Souveränität in der Schweiz dank Föderalismus und Gemeindeautonomie auf viele Kreise aufgeteilt wird. Auch die Kultur des regelgebundenen Aushandelns, zu der der direktdemokratische Einspruch genauso gehört wie die Konkordanz, ist der Berechenbarkeit des politischen Systems zuträglich. Dagegen hat das deutsche Verfassungsgericht durch seine Kompetenz, die parlamentarische Demokratie einzuhegen («Kompetenz-Kompetenz»), die Rechtsunsicherheit gemäss Abromeit für Bürger und Politiker tendenziell erhöht.

Man sollte die Frage also besser umdrehen: Wer soll in einer modernen Demokratie das Privileg besitzen, durch Einspruch Unberechenbarkeit zu produzieren? Eine Gruppe von Richtern, die auf der Grundlage ihrer Interpretation von Verträgen und Regulativen Recht setzen und damit legislativ tätig werden? Ein tendenziell von Leuten mit höheren Bildungszertifikaten dominiertes Parlament? Oder ein Stimmvolk, das Parlament und Regierenden periodisch widerspricht und (in der Schweiz) ausserdem als Verfassungsgeber auftritt? Vor laufendem Mikrofon wird es auf diese Frage selbst in der Schweiz nur eine Antwort geben, zumal in einem Wahljahr: das Stimmvolk, das Parlament und Regierenden periodisch widerspricht. Hinter vorgehaltener Hand sieht es bekanntlich schon lange anders aus.

Der Traum von der Herrschaft der Wissenden und Weisen ist so alt wie die europäische Geschichte.Der Traum von der Herrschaft der Wissenden und Weisen ist so alt wie die europäische Geschichte. Diesen Traum in Europa zu verwirklichen, das hat sich die EU auf die Fahne geschrieben. Das ist auch der tiefere Grund, weshalb sie beim EuGH nicht kompromissfähig sein kann. Jeder Vertreter der EU weiss das. Und alle, die sich mit der Geschichte der Europäischen Union befasst haben, müssten es auch wissen. Dieses Modell ist in sich stimmig und besitzt seine eigene Legitimität. Aber es ist unvereinbar mit dem staatspolitischen Kern der Schweiz. Dieser besteht in der von unten nach oben gebauten Republik und in einer das politische Geschäft verlangsamenden demokratischen Streitkultur. Unvereinbar ist dieses Modell zudem mit der institutionalisierten Kontrolle einer zur Selbstüberschätzung neigenden Elite in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Die Arbeitshypothese, wonach diese Elite dem System Schweiz deutlich mehr verdanke als umgekehrt, hat sich in den letzten zwei Wochen auf dramatische Weise bestätigt.

Daraus folgt allerdings nicht, dass sich im Staate Schweiz nichts ändern dürfe. Wer den aussenpolitischen Handlungsspielraum durch Verfassungsartikel weiter einschränkt, stärkt unser demokratisches System allenfalls kurzfristig. Nicht die uneingeschränkte Neutralität verleiht der Eidgenossenschaft ihren tieferen Sinn und damit ihre Daseinsberechtigung im globalen Rahmen. Das unverhandelbare Gut der Schweiz ist ihre widerspenstige Bürgerdemokratie. Zusammen mit dem dualen Bildungssystem bildet sie ausserdem den zentralen Erfolgsgaranten des Landes. Hier wären Trade-offs nicht nur unklug, sondern geradezu verantwortungslos (vergleichbar mit der Strategie eines Finanzinstituts, dessen Manager und Präsidenten sich aufgrund ihrer exzessiven Bezüge immer für zwei Nummern grösser hielten, als sie es tatsächlich waren). Auch unser Begriff von Rechtsstaat und Rechtssicherheit gründet stärker als anderswo auf diesem demokratischen Kern. Dafür garantieren in der Schweiz keine transnationalen Gerichte, die in Verfolgung eines politischen Endzwecks Regulative erlassen und Parlamente disziplinieren.

Rechtssicherheit gründet hierzulande auf dem demokratischen Letztentscheidungsrecht durch die Stimmbürger. Warum das so ist? Weil ein Lehngut kein Grundbesitz ist.

Oliver Zimmer ist Forschungsdirektor beim Center for Research in Economics, Management and the Arts (Crema) in Zürich. Sein mit dem Ökonomen Bruno S. Frey verfasstes Buch ist im Januar beim Berliner Aufbau-Verlag erschienen: «Mehr Demokratie wagen. Für eine Teilhabe aller».