Drei Jahre Denkpause sind nicht viel. Drei Jahre nachamtlicher Musse zum Blick in die alltägliche Realität Deutschlands haben in Kanzlerin a. D. Angela Merkel (70) die Erkenntnis reifen lassen, im Wesentlichen alles richtig gemacht zu haben.

Die mehr als 700 Seiten starken Erinnerungen, die Merkel gemeinsam mit ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann am kommenden Dienstag veröffentlicht, werfen ihre PR-Schatten voraus. Im Gespräch mit dem Spiegel zum Beispiel spricht Merkel über ihre Migrationspolitik und den Herbst 2015.

«Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben. Die Vorstellung, zum Beispiel Wasserwerfer an der deutschen Grenze aufzustellen, war für mich furchtbar und wäre sowieso keine Lösung gewesen.» Die Erkenntnis, dass die «Sonntagsreden» in der Tat nichts mit der Realität zu tun hatten, hätte man der «Physikerin der Macht», die die Dinge erklärtermassen vom Ende her zu denken vorgab, allerdings durchaus zutrauen können. Merkel hingegen wollte nach ihrer eigenen Lesart den Widerspruch zu lösen, indem sie die Realität den „Sonntagsreden“ anzupassen versuchte, was grandios scheiterte und noch bis heute scheitert.

Wasserwerfer an den Grenzen waren für sie offenbar ein Gräuel, Wasserwerfer und Polizei-Verfolgungsjagden gegen Kritiker der Corona-Politik erschienen später angemessen. Aber solche kleinlichen Kritteleien fechten gewesene Regenten in der Regel nicht an.

Bemerkenswert ist die Passage über die «Sonntagsreden» aber auch, weil es ein geradezu klassisches Wesensmerkmal linker Weltbilder ist, die Realität idealistischen und nicht selten völlig unrealistischen Idealvorstellungen zu unterwerfen. Im Falle Merkels ist es allerdings ein eher hilfloses Bemänteln angerichteten Unheils. Merkel neigte in ihrer Politik ansonsten gerade nicht dazu, irgendwelchen Grundüberzeugungen zu folgen. In der Atompolitik gab sie diese postwendend auf, als die Stimmung nach Fukushima zu kippen drohte. In der Wirtschaftspolitik war ihr ordnungspolitischer Kompass so stabil wie der Rotor einer Windmühle (von Mindestlohn bis Frauenquote), und in der Gesellschaftspolitik ermöglichte sie die Homo-Ehe und stimmte selbst dagegen.

Und was die Folgen dieser Politik betrifft, so gibt es nicht viel mehr als ein verbales Schulterzucken. «Sie schreiben selbst über die massenhaften Sexualdelikte in der Kölner Silvesternacht 2015 und über den islamistischen Anschlag vom Breitscheidplatz in Berlin 2016. Allerdings drücken Sie sich vor Schlussfolgerungen», sagen die Spiegel-Kollegen im Gespräch. Merkel: «Das finde ich nicht. In dem Kapitel ist auch von Lösungsansätzen die Rede. Aber so wie der Kampf gegen Rechtsextremismus nicht den schrecklichen Terror des NSU verhindert hat, so haben alle migrationspolitischen Bemühungen nicht dazu geführt, dass es keine islamistischen Anschläge mehr gibt.»

Jetzt stellt euch nicht so an, soll das wohl heissen. Klappt halt nicht immer alles. Aber sonst …

Wer Merkel kennt, hatte nicht wirklich eine kritische Rückschau erwartet. Ein wenig mehr Eleganz im Beschönigen und Verdrängen hätte man sich als Zeichen der Wertschätzung für die Betroffenen schon gewünscht. Leider ist sie sich auch hier treu geblieben.

 

Ralf Schuler war mehr als zehn Jahre Leiter der Parlamentsredaktion von Bild und ist Politikchef des Nachrichtenportals Nius. Er betreibt den Interview-Kanal Schuler! Fragen, was ist. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» ist im Fontis Verlag, Basel erschienen.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.