Der Sturm der Entrüstung traf CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt völlig unerwartet. Was er denn zum Steinwurf auf die Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Schulze am zurückliegenden Wochenende sage, wurde der Christsoziale in einem Berliner Presse-Hintergrundgespräch gefragt. «Welcher Steinwurf?», fragte er zurück und zog die geballte Empörung der Berichterstatter auf sich, weil es schliesslich nicht sein könne, dass ein CSU-Politiker den Zwischenfall beim Auftritt Schulzes in Neu-Ulm nicht zur Kenntnis genommen habe.

Und dass die Union dazu nichts sage, sei bezeichnend und ein Skandal. Das Ganze gipfelte schliesslich in der Frage, ob die Union durch ihre «Hetze gegen die Grünen» nicht mitschuldig sei am Steinwurf von Neu-Ulm (der im Übrigen von einem alkoholisierten Zuschauer kam und auf der Bühne vor der Politikerin landete).

So unterschiedlich kann die mediale Ausleuchtung der politischen Szenerie sein: Dass AfD-Chefin Alice Weidel am Tag der Deutschen Einheit ihren Auftritt bei der Kundgebung ihrer Partei im bayerischen Mödlareuth wegen einer massiven Bedrohungslage mit konkreten Anschlagsplänen absagen musste, schaffte es (ausser bei der Jungen Freiheit) durchweg nicht in die Schlagzeilen der grossen Medien. Die meisten registrierten den Vorfall allenfalls durch automatisierte Vermeldung des Agenturtextes auf den Online-Seiten.

https://www.nius.de/Kommentar/gewalt-gegen-politiker-selektive-humanitaet-gibt-es-nicht/9725dc22-22aa-4f5b-bc88-2faed461e001

Verwunderlich ist das allerdings nicht. Es ist nicht nur Weidel, die seit langem Personenschutz in Anspruch nehmen muss, es sind auch viele andere AfD-Politiker, deren Autos plötzlich brennen, bei denen Familienmitglieder bedroht oder die Kinder in der Schule beschimpft werden. Vorgänge, die in der Regel weder zur Kenntnis genommen, noch mit der angemessenen Empörung kommentiert werden. Ganz zu schweigen davon, dass auch niemand auf die Idee käme, den politischen Mitbewerbern der AfD eine Mitschuld an den Übergriffen zu geben.

Es gehört zu den unguten Entwicklungen im öffentlichen Diskurs in Deutschland, dass beim Einfordern von Rechtstreue und Rechtsstaatlichkeit mit unterschiedlichem Mass gemessen wird, wenn es gegen die AfD geht. Motto: Ist eigentlich falsch, trifft aber die Richtigen. Tonlage und Lautstärke der Empörung fallen deutlich weniger kraftvoll aus, wenn etwa Ex-AfD-Chef Alexander Gauland wegen politischer Missliebigkeit eines Lokals verwiesen wird oder AfD-Politikern das Bankkonto gekündigt wird. Niemand erhebt in solchen Fällen Anklage gemäss Antidiskriminierungsgesetz.

Die im linken Lager verbreitete Strategie des «Keine-Bühne-Bietens» und die mehr und mehr auch in den Medien Einzug haltende Sprachregelung, wonach alle anderen Parteien ausser der AfD «demokratische Parteien» sind, unterstreichen die Paria-Stellung der Partei in der öffentlichen Wahrnehmung, die ausweislich der aktuellen Umfragewerte allerdings beim Wahlvolk offenbar gar nicht verfängt.

Dass viele der Akteure bei jeder Gelegenheit Vielfalt, Buntheit, Überwindung der Spaltung und das «Mitnehmen der Menschen im Lande» beschwören, macht die Sache nicht besser. Nur skurriler.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.