Jedes Jahr hält Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán im siebenbürgischen Bad Tuschnad (ungarisch: Tusnádfürdő) eine Rede, auf die die Welt gebannt schaut. Die diesjährige Rede war meines Erachtens die zweitwichtigste, die er jemals hielt.

Die wichtigste war seine allererste politische Rede 1989, noch als Studentenführer, als er den Abzug der russischen Truppen forderte und die Verwirklichung der nationalen Visionen aus Ungarns Freiheitskriegen gegen die Habsburger. Das katapultierte ihn von einem Tag auf den anderen auf die Bühne der grossen Politik, auch international. Jeder, der ihn sah, verstand, dass dieser junge Mann für Ungarn nach der Wende eine grosse Rolle spielen würde. Orbán trat damals als Liberaler auf, aber diese Rede könnte er auch in seinem heutigen Selbstverständnis als Konservativer Wort für Wort wiederholen.

Was er dieses Jahr sagte, war deswegen wichtig, weil er eine komplette Analyse der Lage der Welt vorlegte, die voraussehbaren Entwicklungen bis 2050 skizzierte, Ungarns Platz in all dem verortete und eine «grosse Strategie» ankündigte, mit der Ungarn inmitten der epochalen Veränderungen unserer Zeit seine Erfolgschancen in dieser neuen Weltordnung maximieren solle – denn diese Veränderungen seien auch eine Chance.

Wer diese Rede studiert, kann also genau sehen, was Ungarn in den nächsten Jahren anstrebt. Das macht den Text wichtig für Ungarn, aber auch international: Denn Orbán ist weltweit der einzige Politiker, der öffentlich und allgemeinverständlich umfassende, zukunfts- und handlungsorientierte Analysen vorlegt, wie sie sonst nur wenige Experten in schwer verständlicher Sprache anfertigen. Eine solche Orbán-Analyse ist zudem nie ein einsamer Aufsatz, sondern darin steckt das analytische Potenzial seiner ganzen Regierung und der Input auch amerikanischer und westeuropäischer Ratgeber und Experten.

Was also sagte Orbán? Er habe, so gestand er, das Tempo und die Ausmasse des Strukturwandels in der Welt unterschätzt. Der Krieg in der Ukraine habe alle Transformationsprozesse beschleunigt und die brutale Wahrheit sichtbar gemacht: wie die Machtverhältnisse in der Welt aussehen und was das für die Zukunft bedeutet.

Der Westen habe sich vom Nationalstaat verabschiedet, sagte er – anders als die ostmitteleuropäischen Länder, die Politik nur in diesem Rahmen sinnvoll finden. Denn nur der Nationalstaat biete die Werte, die gemeinsames Handeln auf der Basis einer gesellschaftlichen Moral überhaupt erst ermögliche. Diese Abkehr der westlichen Länder vom Nationalstaat, seiner Kultur und seinen Werten, sei unumkehrbar. Im Osten werde man diesen Weg dennoch nicht beschreiten.

Die deutsch-französische Achse als Zentrum der europäischen Politik, so sagte Orbán, sei tot. Das Machtzentrum in Europa habe sich auf ein Bündnis Grossbritanniens, Polens, der baltischen Staaten und der Ukraine verschoben. Eine steile These, aber stimmig: Die treibenden Kräfte europäischer Politik sind derzeit zwei Staaten, die gar nicht zu ihr gehören (Grossbritannien und die Ukraine) sowie die mittelosteuropäische Regionalmacht Polen.

Die Potenz dieser neuen Achse ergibt sich laut Orbán aus der Rolle der USA: Polen habe die einstige Kooperation im Rahmen der mittelosteuropäischen Visegrád-Gruppe aufgegeben, um sich zum Zentrum amerikanischer Präsenz in Europa zu machen und damit die deutsch-französische Achse zu zerstören. Es mag zwar noch eine deutsch-französische Zusammenarbeit geben, aber sie sei irrelevant geworden.

Die EU habe vor diesem massiven amerikanischen Einfluss kapituliert und sich zum blossen Verstärker der US-Aussenpolitik gemacht, wie sie von den US-Demokraten betrieben werde. Die EU habe aufgehört, eigene aussenpolitische Interessen zu formulieren oder zu vertreten.

Das werde zu Problemen führen, denn unter einem Präsidenten Trump (Orbán war der Auffassung, dass Trump die Wahlen gewinnen wird) würden die USA zwei Dinge tun, die der EU sehr schaden würden: Trump werde aufhören, den Krieg zu finanzieren, und die EU mit der Aufgabe allein lassen. Die EU habe aber nicht genug Geld, den Krieg allein weiterzufinanzieren, und auch nicht genug Geld, die Ukraine nach dem Krieg wieder aufzubauen. Aus diesem Grund werde die Ukraine keine EU-Mitgliedschaft bekommen (und auch keine Nato-Mitgliedschaft).

Sie sei am Ende dazu verdammt, weiterhin ein Pufferstaat zwischen Russland und Nato/EU zu bleiben. Damit scheitere am Ende auch die Strategie Polens, alles auf die amerikanische Karte zu setzen, und Warschau werde gezwungen sein, zur Visegrád-Kooperation zurückzukehren. Deren Essenz bestehe in der Akzeptanz eines starken Deutschlands im Westen und der Anerkennung eines starken Russlands im Osten – die Visegrád-Gruppe sei die Lösung für dieses Dilemma, geografisch zwischen diesen beiden Machtfaktoren zu liegen. Polens derzeitige Lösung sei hingegen der Versuch, Deutschlands Stärke nicht zu akzeptieren, sondern zu reduzieren, mit dem Aufbau einer starken Armee, einer starken Wirtschaft, und einem besonderen Verhältnis zu den USA.

Die amerikanische Politik, so Orbán, werde zudem bestrebt sein, das finanzielle und wirtschaftliche Potenzial Europas nach Amerika zu ziehen. Schon jetzt sei zu beobachten, dass grosse europäische Unternehmen lieber in den USA investierten – weil die EU sich unter anderem mit ihrer Sanktionspolitik «in den Fuss geschossen» und Europas Wettbewerbsfähigkeit beschädigt habe.

Aus all diesen Gründen, sagte Orbán, brauche die EU eine «strategische Autonomie», um ihre Interessen auch gegen die USA durchsetzen zu können.

Bis 2050 prophezeit Orbán eine globale Umwälzung, wie der Westen sie seit 500 Jahren nicht erlebt habe. Denn in den vergangenen 500 Jahren seien alle Herausforderungen – etwa die Weltkriege – Konflikte innerhalb der westlichen Welt selbst gewesen. Nun aber verschiebe sich das globale Machtzentrum nach Asien: China, Indien, Pakistan, Indonesien. Dort werde mehr Geld sein als sonst irgendwo auf der Welt, mehr Innovation, mehr Technologie, und auch militärisch würden diese Länder zum Westen aufschliessen. Ungarn müsse sich die Frage stellen, ob das alles eine Bedrohung oder eine Chance darstelle.

Falls Bedrohung, dann müsse Ungarn sich dem neuen westlichen Trend einer erneuten Blockbildung anschliessen. Orbán sieht diese Entwicklung – den Aufstieg Asiens – aber nicht als Gefahr, sondern als Chance. Die Antwort müsse daher in einer Öffnung zu diesen Ländern liegen, unter Beibehaltung der EU-Mitgliedschaft – vorausgesetzt, die Bedingungen für eine solche Öffnung seien gegeben.

Aus den USA werde wohl kein Angebot kommen, das «vorteilhafter wäre als der Verbleib in der EU», sagte er. Aus China sei ein Angebot gekommen, dass Ungarn zu nutzen gedenke: Bei fortdauernder EU-Mitgliedschaft eine «gegenseitige Modernisierung unserer Länder». China sei bereit, grosse Summen in Ungarn zu investieren und ungarischen Firmen Zugang zum chinesischen Markt zu bieten. In der EU werde es bei alldem möglich sein, in Brüssel Spielraum zu erkämpfen für einen ungarischen Sonderweg.

In Ungarn selbst müsse man die Wirtschaft stärken, vor allem die internationale Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen. Und die Demografie, denn wenn die Geburtenkrise nicht bewältigt werden könne, habe alles andere wenig Sinn. Die Steuererleichterungen für Familien müssten ab 2025 verdoppelt, die Staatsverschuldung gleichzeitig halbiert werden. Ausserdem will man gezielt um Zuwanderung aus Westeuropa werben – Menschen, die den postnationalen Kurs ihrer Länder ablehnen und in Ungarn ihr Glück versuchen wollen.

Das waren Orbáns wichtigere Bemerkungen. Ein wenig neidisch folgt man seinen Ausführungen – denn in westlichen Ländern gibt es entweder keine Politiker, die in strategischen Dimensionen denken, oder zumindest keine, die ihre Strategie öffentlich so transparent erklären.

Warum tut er das? «Weil Menschen einen Plan nur dann verteidigen, wenn sie ihn verstehen und sehen, dass er gut ist für sie.»