Es gab fast nichts, was er in seinem Leben nicht war: Knastbruder, Kinderbuchautor, Caterer, Killer. Doch bei allem, was er tat, blieb sich Jewgeni Prigoschin in einem Punkt treu: Er wusste immer, was gut für ihn war, seine Instinkte trogen ihn nie. Umso rätselhafter war seine letzte Entscheidung, der fehlgeleitete Marsch auf Moskau – eine fatale, letztlich selbstmörderische Fehlkalkulation. War es Hybris, war es ein Spiel, tappte er in eine Falle? Oder ist Prigoschin womöglich noch am Leben? Antworten auf diese Fragen wird es wohl nie geben in diesem an Rätseln und Mysterien so überreichen Land.

Kremlchef Wladimir Putin, der Prigoschin seit dreissig Jahren kannte und nun vielleicht für seinen Tod verantwortlich ist, rühmte den bulligen Glatzkopf in einem Nachruf mehrdeutig als einen «Mann mit einem komplizierten Schicksal», der in seinem Leben «schwere Fehler» gemacht habe. Allerdings sei er auch ein «talentierter Geschäftsmann» gewesen. Dieses Urteil liesse sich auch über das neue, aus der sowjetischen Konkursmasse hervorgegangene Russland abgeben, ein Russland, das massgeblich von Putin geprägt wurde.

 

Wiederkehr der Träume

Tatsächlich verkörpert Prigoschins Leben fast spiegelbildlich die Jahre zwischen 1989 und heute: die wilde, anarchische Aufbruchstimmung unter Boris Jelzin, als grosse Vermögen mit wenig Skrupeln und viel krimineller Energie zusammengerafft wurden, dann das Wiedererstarken des Staates und staatlicher Regeln unter Ex-Geheimdienstler Putin, schliesslich die Wiederkehr der Träume von einem starken Russland, gestützt auf die Macht von Waffen.

«Ich hatte gemerkt, dass die Leute es satthatten, nur Koteletts und Wodka zu konsumieren.»

Prigoschin durchlief diese Jahre ebenfalls in drei Etappen: vom Hotdog-Verkäufer und Multi-Entrepreneur über den Grossunternehmer mit fetten Staatsaufträgen zum Chef einer Privatarmee, die Russlands Ruhm und Einfluss in der Welt stärken sollte. Dass sie nebenbei Gewinn abwerfen sollte für ihn und für Mütterchen Russland, verstand sich von selbst. In Afrika besorgte seine Gruppe Wagner lukrative Abkommen zum Abbau seltener Rohstoffe. Auch er ging nicht leer aus. Wenige Tage vor seinem Tod wurde er in einer afrikanischen Hauptstadt gefilmt, als er überwachte, wie seine Männer Kisten mit Gold in seine Privatmaschine luden.

Prigoschin hatte – wie man es sehen will – die besten oder die schlechtesten Voraussetzungen, um in den Wildwestjahren des nachkommunistischen Russlands nach oben zu kommen. Aber auf alle Fälle nutzte er die Chancen, die diese Zeit einem skrupellosen jungen Mann von damals 29 ​Jahren bot. Denn im Wendejahr 1990, als die UdSSR zu Grabe getragen wurde, war Prigoschin ein Ex-Häftling ohne Bildung. Er kehrte aus einer Strafkolonie, wo er neun Jahre wegen Einbrüchen und eines brutalen Raubüberfalls verbüsst hatte, ins heimatliche Leningrad zurück. Er und seine Bande hatten auf offener Strasse eine Frau attackiert und sie gewürgt. Die Beute: Stiefel und Ohrringe des Opfers.

 

Baugewerbe, Marketing, Glücksspiel

Im Lager verlor Prigoschin zwar ein Glied seines linken Ringfingers, erwarb aber Arbeitserfahrung, eine rudimentäre Bildung und gewann die Erkenntnis, dass das Glück nicht unbedingt dem Tüchtigen, sondern dem Zupackenden lacht. Später sollten ihm seine Referenzen als «sek», als Ex-Häftling, helfen, in Straflagern Söldner für seine Truppe im Ukraine-Krieg anzuwerben.

Ein Studium der Pharmazie brach er nach seiner Heimkehr sehr schnell ab. Stattdessen verkaufte er zusammen mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Hotdogs – eine Neuheit in Russland – auf einem Markt. «Die Rubel kamen so schnell herein, dass meine Mutter mit dem Zählen gar nicht mehr nachkam», erzählte er später. Aus einem Stand wurde eine Kette, dazu kamen Interessen und Investitionen im Baugewerbe, im Marketing und im Glücksspiel. Letzteres dürfte ihn vermutlich mit Putin zusammengeführt haben. Er war im Bürgermeisteramt von St. Petersburg für die Vergabe von Lizenzen für Casinos zuständig.

Bald zog es Prigoschin in die höhere Gastronomie. Im Dezember 1996 eröffnete er das «Alte Zollhaus», St. Petersburgs erstes Spitzenrestaurant. «Ich hatte gemerkt, dass die Leute es satthatten, nur Koteletts und Wodka zu konsumieren», begründete er den Schritt. Im «Zollhaus» traf sich die politische und wirtschaftliche Elite der Stadt. Doch sein zweites Restaurant zog noch hochkarätigere Klientel an: Im «New Island» bewirtete er 2001 den neuen Präsidenten Putin und dessen französischen Gast Jacques Chirac. Ein Jahr später lud der Kremlchef US-Präsident George W. Bush dorthin ein. In den Genuss von Prigoschins Kochkünsten gelangten sie freilich nicht. «Ich kann überhaupt nicht kochen», wehrte der Promi-Wirt das Etikett «Putins Koch» ab, das ihm von westlichen Medien verpasst worden war.

 

Moskaus Trollfabriken

Die Restaurantkontakte schlugen sich bald in lukrativen Staatsaufträgen nieder. Vor allem die russischen Streitkräfte, gegen die Prigoschin Jahre später seinen Aufstand anzetteln sollte, entwickelten sich zu den besten Kunden. Seine Baufirmen errichteten Militärbasen, das Catering-Unternehmen versorgte Truppenküchen. Allein in einem Jahr brachte ihm die Verpflegung der Soldaten eine Milliarde Schweizer Franken ein – Geld, das er in einen neuen Geschäftszweig investierte: in das «Internet-Forschungsinstitut». Dahinter verbargen sich Trollfabriken, die weltweit Russlands Image fördern und den Ruf von Moskaus Gegnern schädigen sollten.

Nichts deutete darauf hin, dass der untersetzte Geschäftsmann bald Chef einer mehrere zehntausend Mann starken Privatarmee sein und diese persönlich in voller Kampfmontur ins Gefecht begleiten würde. Schliesslich hatte dieser Mann erst ein paar Jahre zuvor zusammen mit seinem Sohn und seiner Tochter ein niedliches Kinderbuch über kleine Wesen verfasst, die versteckt im Kronleuchter eines Theaters wohnen.

Später sollten ihm seine Referenzen als Ex-Häftling helfen, in Straflagern Söldner für seine Truppe anzuwerben.

Versteckt hielt sich auch Prigoschin in den ersten Jahren der Söldnergruppe Wagner. Entschieden wies er jede Verbindung zurück, erst nach Beginn des Ukraine-Kriegs trat er als deren Chef an die Öffentlichkeit, emotional und martialisch untermalt von Videos in Kampfmontur von der Front. Doch die Anfänge der Organisation liegen im Dunkeln. Bis heute weiss man nicht, ob Prigoschin sie begründete oder der ebenfalls beim Flugzeugabsturz getötete Ex-Soldat Dmitri Utkin. Wahrscheinlich stellte der Leiter des Sicherheitsdienstes von Prigoschins Unternehmen, Jewgeni Guljajew, 2012 die Verbindung zwischen den beiden Männern her. Als sicher gilt, dass der Unternehmer die Finanzierung der Truppe übernahm.

 

Gescheiterter Putsch als Wendepunkt

Russland ist nicht das einzige Land mit einer Privatarmee. Die amerikanische «Sicherheitsfirma» Academi (vormals Blackwater) wurde 1997 von einem ehemaligen Navy Seal begründet. Ihre Söldner kamen vor allem im Irak zum Einsatz, wo sie an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein sollen. Dieselben Vorwürfe machte man der Gruppe Wagner bei deren Einsätzen im syrischen Bürgerkrieg. Erstmals bekannt wurde die Gruppe 2014, als die Ukraine damit begann, die überwiegend russisch besiedelten Gebiete Donezk und Lugansk zu beschiessen. Die «Wagnerowzi» stärkten den Widerstand auf russischer Seite.

Inzwischen besteht kein Zweifel mehr, dass die Existenz der Privatarmee von Prigoschin abhing – nicht nur von seinem Geld, sondern auch von seinem Charisma und seiner Führungsstärke. Seit seinem gescheiterten Putsch befindet sich die Truppe in Auflösung, ein Prozess, der sich mit seinem Tod beschleunigt hat. Doch alles deutet darauf hin, dass ihr Anführer Prigoschin in die Volksmythologie eingehen wird – als Patriot und Vertreter des kleinen Mannes, der die Mächtigen im Kreml kurz das Fürchten lehrte.