Das Versicherungsprinzip beruht auf Solidargemeinschaft und objektiver Bestimmung von Krankheit. Auf diesem Fundament stehen die Sozialversicherungen. Dies unterstreichen auch die Bundesgerichtsurteile. Derzeit hält jedoch ein Krankheitsbegriff Einzug, der allein auf die subjektive Einschätzung der Betroffenen abstellt. «Long Covid» zeigt, was dies für das Versicherungssystem bedeutet: eine massive Belastungsprobe.

Die Diagnose Long Covid wird in der Mehrzahl der Fälle allein von den Klagen der Betroffenen getragen. Dies wird für ausreichend angesehen, schliesslich fusst auch die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf einer individuellen Selbstbestimmung. Einer unabhängigen Objektivierung von Beschwerden bedarf es hierbei nicht; eine für Dritte erkennbare Gesundheitsstörung wird für entbehrlich gehalten.

Dabei gäbe es in der wissenschaftlichen Medizin klare Kriterien:

Erstens _ Der Dosis-Antwort-Effekt fordert eine zunehmende Häufigkeit von Beschwerden mit zunehmendem Schweregrad der Krankheit. Long-Covid-Syndrome hingegen scheinen von der Stärke der initialen Infektion weitgehend entkoppelt, kommen in vergleichbarer Häufigkeit bei banalen als auch bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen der initialen Erkrankung vor. Allein dies begründet in der Epidemiologie bereits Zweifel an einer plausiblen Kausalität.

Zweitens _ Die meisten Long-Covid-Patienten klagen über allgemeine körperliche, psychische und geistige Ermüdung, reduzierte Belastbarkeit sowie weitere diffuse Beschwerden. Demgegenüber lassen sich vor allem für schwerwiegende akute Covid-Erkrankungen auch messbare Organschäden zeigen und von den diffusen Beschwerden biologisch unverstandener Long-Covid-Klagen abgrenzen.

Drittens _ Covid-Beschwerden unterscheiden sich nicht ausreichend von den Klagen zum Beispiel bei chronischer Fatigue, Fibromyalgie, myalgischer Enzephalomyelitis oder depressiven Syndromen. Der einer vermeintlichen Covid-Ursache zuzuordnende Anteil ist somit nur durch eine Berücksichtigung der in der Gesamtpopulation vorliegenden ähnlichen Beschwerden ausreichend bestimmbar.

Die Diagnose Long Covid wird in der Mehrzahl der Fälle allein von den Klagen der Betroffenen getragen.

Von selbst in die Welt gezaubert

Ist Krankheit nun individuell selbstdefiniert oder an eine notgedrungen komplexe Kausalitätsprüfung gebunden? Eine individuelle Selbstbestimmung hat den offenkundigen Vorteil einer einfachen Verständlichkeit. Die Kriterien der wissenschaftlichen Medizin wirken demgegenüber rasch unverständlich. Sie befeuern die Polemik einer vermeintlich inhumanen wissenschaftlichen Medizin. Dabei versteht sich die wissenschaftliche Medizin nicht als geschlossenes Weltbild. Es gibt auch Befindlichkeitsstörungen, die keiner Krankheit zuzuordnen sind.

Das Nebeneinander verschiedener Krankheitsbegriffe wird gemeinhin als wünschenswerte Meinungsvielfalt angesehen. Von den Rechtsanwendern wird dies jedoch immer wieder kritisiert: So hat der scheidende Präsident des eidgenössischen Bundesgerichts, Ulrich Meyer, die Medizin aufgefordert, ihren Begriff der Krankheit endlich zu klären. Leicht dürfte dies nicht werden.

Denn die individuelle Selbstbestimmung von Krankheit ist im Kontext des Erstarkens weltanschauungsbasierter «ganzheitlicher» Krankheitskonzepte zu sehen. Seit je erfolgt in dieser Denkrichtung keine strikte Trennung von Beschwerden und Krankheit. Die wertphilosophischen, biopsychosozialen Medizinkonzepte und die damit einhergehende individuelle Selbstbestimmung machen einen Anspruch geltend, der keiner nachprüfbaren Begründung nach den Kriterien der wissenschaftlichen Medizin bedarf. Lediglich ein stets irgendwie gegebener Zusammenhang von allem mit allem muss hier zur Geltung gebracht werden.

Der höhere Wert einer ganzheitlichen Sichtweise bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Er zaubert sich von selbst in die Welt. Untrennbar verbunden mit dem Wert des Ganzheitlichen ist dabei die Minderwertigkeit anderer Konzepte, da diese stets blind für den Gesamtzusammenhang und das leidende Individuum erscheinen müssen.

Krankheit und Arbeit

Die wissenschaftliche Medizin hat sich leider aus konfliktträchtigen Feldern weitgehend zurückgezogen: So ist die Versicherungsmedizin an den Hochschulen kaum repräsentiert. Einen eidgenössischen Lehrstuhl für Versicherungsmedizin gibt es trotz der milliardenschweren Ausgaben der Invalidenversicherung nicht. Dabei ist gerade die Frage nach dem Verhältnis von Krankheit und Arbeit gesellschaftlich höchst relevant.

Versicherungsmedizinisch ist die Arbeitsfähigkeit anhand einer Erkrankung und deren behindernden Folgen abzuschätzen. Divergierende Krankheitsbegriffe werden hier nun unvereinbar. Long Covid repräsentiert dabei das aktuell wirkmächtigste Vehikel einer von der wissenschaftlichen Medizin unabhängigen Krankheitsdefinition.

Die sozialen Sicherungssysteme lassen sich aber nur mit einem objektiven Krankheitsbegriff aufrechterhalten. Eine individuelle Beliebigkeit kann keine Gemeinschaft bilden und muss diese letztlich auflösen. Solange Invalidenrenten nach dem Versicherungsprinzip gezahlt werden, bedürfen sie einer an objektiven medizinischen Kriterien orientierten Prüfung.

Prof. Dr. med. Henning Mast ist Facharzt für Neurologie in Zürich und Medical CEO der PMEDA AG, die im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen medizinische Gutachten erstellt.