Es ist wie ein schlechter Film: Deutschland nach dem Messeranschlag von Solingen. Klappe: Migrationsdebatte die 177. Die Zahl ist gefühlt und die Reihe nach oben offen. «Es reicht!», schreibt Bild-Chefredakteurin Marion Horn, und CDU-Chef Friedrich Merz sekundiert: Ihm «reicht» es auch, als hätte es nicht jüngst nach dem Polizistenmord von Mannheim schon gereicht oder nach der brutalen Fahrt des Islamisten Anis Amri 2016 über den Berliner Breitscheidplatz.

In Wahrheit «reicht» es seit Jahren, und die deutsche Terror- und Migranten-Kriminalitätsstatistik kann innerhalb von nicht einmal ganz zehn Jahren seit dem Migrationsherbst 2015 auf eine reichhaltige Skala von Vergleichsfällen im eigenen Land zurückblicken, die wahlweise schlimmer oder nicht ganz so brutal gewesen sind. Axtangriffe in Zügen, Messerangriffe und Machetenattacken, Bombenbauer, die noch rechtzeitig gestoppt werden konnten, Hasspredigten in Moscheen, Kalifatforderungen auf öffentlich geschützten Demonstrationen, offener Antisemitismus …

Die SPD-Chefin Saskia Esken erklärt bei «Caren Miosga» (ARD), dass man aus diesem Anschlag in Solingen irgendwie keine wirklichen Lehren ziehen könne, und hat damit völlig recht. Denn Sie und ein sehr breites linkes Milieu sieht in all den «Vorkommnissen» lediglich bedauerliche Einzelfälle oder «anekdotische Evidenz», wie ich es unlängst in einer Podiumsdiskussion vorgehalten bekam.

Mit anderen Worten: Ein Teil der tonangebenden Öffentlichkeit blickt statt auf die Realität vor allem auf ein idealistisches Multikultur-Weltbild, das um jeden Preis bewahrt werden muss. Der Ablauf ist immer der Gleiche: Es zieht alsbald das Bündnis «Buntes Neu-Meuselwitz» durch die Strassen, die linke Band Feine Sahne Fischfilet spielt auf, Herbert Grönemeyer («Keinen Millimeter nach rechts») und Campino schicken eine Grussbotschaft, und vom Bundeskanzler bis zum Bundespräsidenten warnen alle, gegen «Hass und Hetze» zusammenzustehen.

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) gibt sich kämpferisch, dass wir alle entschlossen seien «unsere Art zu Leben zu verteidigen», und merkt gar nicht, dass ein grosser Teil der Öffentlichkeit nicht der Ansicht ist, dass es normal sei, im eigenen Land den eigenen Lebensstil verteidigen zu müssen. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sinniert in einem Interview darüber, dem Bündnis Sahra Wagenknecht die Parteienfinanzierung zu erschweren, und CDU-Chef Friedrich Merz will – völlig zu Recht – harte Einschnitte in der Migrationspolitik. Dazu, bietet er an, würde die Union Kanzler Olaf Scholz (SPD) «die Hand reichen», und man fragt sich unwillkürlich, warum ein Oppositionsführer einem gescheiterten Regierungschef, der ja über eine eigene Mehrheit verfügt, «die Hand reichen» will, statt ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen und aus dem Amt zu drängen.

Ach ja, es stehen am Wochenende Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen bevor. Da ist ein wenig Aufgeregtheit im Raum, weil in den Umfragen dort derzeit eine Mehrheit der Ansicht ist, dass die Falschen (AfD und BSW) die richtigen Antworten geben. Und so bangen sich denn die etablierten Parteien dem Wahltag entgegen und hoffen, irgendwie nach der Wahl Bündnisse gegen die AfD schmieden zu können, wobei schon jetzt hinter den Kulissen Personal-Deals ausgeheckt werden, um möglichst auch gegnerische Gruppen zu ködern.

Dass möglicherweise genau dieses Auslavieren von gewählten Mehrheiten der Demokratie mehr schaden als nützen und die Basis der Parteien weiter erodieren lassen könnte, ahnen mache. Doch bis der Abgrund nicht da ist, rollt der Partywagen fröhlich weiter. Alle heiter, immer weiter …

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.