Weltwoche: Herr Botschafter, wie beurteilen Sie die aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt?

Sergei Garmonin: Wir beobachten eine sehr nervöse Reaktion auf die russisch-amerikanischen Kontakte. Sie lösen eine regelrechte Hysterie bei den Russophoben in Brüssel und in den Strukturen der Europäischen Union und der Nato aus. Wir stellen auch die verzweifelten Versuche der EU fest, ihre eigene Teilnahme am Dialog zwischen Moskau und Washington durchzusetzen. Gleichzeitig beweist die Europäische Union eine erstaunliche Unfähigkeit, über ihre eigene primitive Einstellung zu Sanktionen und Krieg mit Russland «bis zum letzten Ukrainer» hinauszugehen.

Weltwoche: Haben Sie dazu ein Beispiel?

Garmonin: Ein neues Beispiel dafür ist das neue, 16. Paket antirussischer Sanktionen, das am 24. Februar verabschiedet wurde. Die Tinte auf dem Papier ist noch nicht getrocknet, aber in Brüssel hat man bereits begonnen, über das nächste, 17. Sanktionspaket zu diskutieren. Natürlich sind sich die europäischen Hauptstädte der völligen Nutzlosigkeit des 16., 17. und aller nachfolgenden Sanktionspakete bewusst – die letzten drei Jahre haben dies deutlich gezeigt. Aber die EU-Politiker sind zu Geiseln des Konfrontationskurses geworden und können es sich einfach nicht leisten, damit aufzuhören. Vor dem Hintergrund der sich rasch verändernden geopolitischen Lage erscheint eine solche fehlerhafte Logik des Denkens wie ein Ausdruck von Verzweiflung, Wut und Schwäche.

Weltwoche: Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz?

Garmonin: Ich würde gerne glauben, dass die politischen Kreise in Bern die Weisheit haben werden, zu erkennen, dass die Brüsseler Konfrontationslogik zu nichts führt, und sie aufzugeben. Wie der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, am 24. Februar in einem Interview sagte: «Die politischen Leader der europäischen Staaten sind mit dem aktuellen [Kiewer] Regime verbunden, sie sind engagiert. Und sie haben zu viel gesagt und versprochen, und jetzt ist es für sie sehr schwierig oder praktisch unmöglich - entschuldigen Sie die Einfachheit des Ausdrucks – von dieser Position «wegzufahren», ohne das Gesicht zu verlieren. Und wenn man bedenkt, dass sie sich in einer ziemlich komplizierten und für sie verantwortlichen innenpolitischen Phase mit Wahlen, Neuwahlen, Schwierigkeiten in den Parlamenten und so weiter befinden, dann ist es für sie unter diesen Umständen praktisch unmöglich, ihre Position zu ändern».

Weltwoche: Was hat das für Konsequenzen?

Garmonin: Leider sehen wir bisher keine Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Dialogs mit Europa. Die Europäische Union geht von der Notwendigkeit aus, die Feindseligkeiten so lange fortzusetzen, bis das Kräfteverhältnis auf dem Schlachtfeld zu Gunsten Kiews ausfällt. Diese Überzeugung der Europäer steht in völligem Gegensatz zu der Stimmung, reale Wege zur Lösung des Ukraine-Konflikts zu finden. Daher stellt die europäische Beteiligung an den bilateralen russisch-amerikanischen Kontakten derzeit einfach keinen Mehrwert dar, zumal der Zweck dieser Kontakte derzeit darin besteht, das Vertrauen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland zu stärken.

Weltwoche: Warum sitzen die Europäer nicht am Verhandlungstisch?

Garmonin: Die Frage ist, was die Europäer damit zu tun haben? Irgendwann haben sie aufgrund einiger absurder Ideen entschieden, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen und die Kontakte zu uns abgebrochen. Wenn sie zurückkommen wollen – bitte, dann tun sie das. Aber dieses Gespräch sollte nüchtern und sachlich sein. Was die Lage vor Ort betrifft, so entwickelt sie sich langsam, aber sicher weiter zu Gunsten Russlands. Die russischen Streitkräfte befreien nach und nach die vom Kiewer Regime besetzten Siedlungen, sowohl in der Region Kursk als auch in neuen Regionen Russlands. Die Schlüsselfrage lautet nun: Wann wird die Resilienz der bewaffneten Formationen Kiews auf Null sinken? Ich denke, dass die Antwort auf diese Frage direkt von der amerikanischen Militärhilfe, darunter die Bereitstellung von Starlink-Diensten, abhängt.

Weltwoche: Haben sich in den letzten Monaten die Beziehungen zur Schweiz verbessert?

Garmonin: In letzter Zeit haben wir zahlreiche Versuche der Schweizer Presse und einzelner Politiker beobachtet, das Bild zu zeichnen, dass Russland die Eidgenossenschaft nicht mehr als unfreundliches Land wahrnehmen würde. Dies ist nicht der Fall. Wir belasten unsere Beziehungen nicht, und wir handeln bewusst in diesem Sinne. Aber wir sehen keine Voraussetzungen für eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen, auch wenn jemand sehr gerne die Rolle des Vermittlers und Friedensmachers übernehmen möchte.

Weltwoche: Gibt es eine Möglichkeit, dass die Schweiz im Friedensprozess eine Funktion wahrnehmen kann, gibt es entsprechende Bemühungen?

Garmonin: Eine Schweizer Vermittlung kommt nicht in Frage, das haben unsere Spitzenpolitiker, darunter Aussenminister Sergej Lawrow, mehrmals betont. Zunächst einmal muss das offizielle Bern zumindest seine unfreundliche Politik gegenüber Russland aufgeben. In der Praxis bedeutet dies die Aufhebung der Sanktionen, den Verzicht auf diskriminierende Massnahmen gegenüber unseren Mitbürgern, die Nichtbeteiligung an antirussischen Initiativen im «Schadensregister» des Europarats oder die Organisation einer Art «internationales Tribunal» gegen unser Land. Noch einmal: Solange es keine Vorbedingungen in Form einer Änderung des unfreundlichen Kurses gegenüber unserem Land gibt, wird Moskau seine Haltung gegenüber Bern nicht ändern, und deshalb brauchen wir auch keine Vermittlung durch vermeintliche Neutrale. Keine Avancen zum Nachteil der russischen Interessen.