Der «Club Baur au Lac», Treffpunkt des Zürcher Establishments, war das Stammlokal Egon Zehnders. Üblicherweise kam er da herein mit seinem selbstbewussten Auftreten, einladendem Lächeln, mit massgeschneidertem Anzug, einer eleganten Hermes-Krawatte in Pastellfarben, frisch geputzten Schuhen und einem Cary-Grant-Look. Eine herzliche Begrüssung durch den Barkeeper, der Präsident eines Schweizer Konzerns klopft ihm auf die Schulter, ein paar Worte werden gewechselt, ein kurzes Lachen ist hörbar. Zehnder mochte die Menschen, und die Menschen mochten ihn. In diesen Kreisen kannte er sie alle.
Egon Zehnder, die gleichnamige Headhunting-Firma, hat sich zu einer der grossen Erfolgsgeschichten unserer Zeit entwickelt. Sie hat die Art und Weise verändert, wie wir über die Rekrutierung von Talenten in allen Teilen der Welt denken. Kein anderes Personalberatungsunternehmen ist international so breit aufgestellt: 63 Büros in 37 Ländern, 2300 Mitarbeiter, 259 Partner (39 Prozent Frauen). Während Egon Zehnder unzählige Karrieren geprägt hat, ist über den Gründer der Firma sehr wenig bekannt.
Zehnders Anfänge waren einfach. Er wuchs in Zürich auf und studierte Jura an der Universität Zürich. Aber trockene Juristerei reizte ihn nicht. Sein «Weg nach Damaskus» begann, als er sich entschloss, einen MBA in Harvard zu absolvieren. Er entledigte sich seiner sorgfältig gebügelten Schweizer Hauptmannsuniform und suchte den Zugang zur Harvard-Elite der US-Ostküste – mit Penny-Loafers, Oxford-Hemden von Brooks Brothers und dem Auftreten à la Jimmy Stewart.
Ein paar Jahre danach zog es ihn zur Führungsberatungs-Firma Spencer Stuart, und er merkte, dass sich etwas Entscheidendes anbahnte. Der Vormarsch der Pensions- und Investmentfonds verlagerte in Unternehmen die Macht von den Eigentümern zu den Managern, und die Idee, als Angestellter sowohl die Karriere als auch den Wohlstand zu optimieren, setzte sich durch. Auch die Verwaltungsräte und Manager standen unter wachsendem Druck, ihre Aktienkurse zu steigern, und die Suche nach talentierten Führungskräften galt als das sicherste Mittel dazu. Plötzlich gab es einen Marktpreis für Gehälter; Makler wurden benötigt, um den Austausch zu erleichtern. Die Suche nach Führungskräften – im Volksmund headhunting genannt – war ein schnell wachsender und lukrativer Sektor.
Zehnder kehrte nach Zürich zurück, wo er das Europageschäft von Spencer Stuart aufbaute. Aufgrund einer rechtlichen Besonderheit, wonach Mietverträge auf den Namen eines Schweizer Bürgers lauten mussten, verdrängte Zehnder seinen früheren Arbeitgeber, gründete 1964 sein eigenes Unternehmen und übernahm stattliche Büros an der Bahnhofstrasse 1, der besten Adresse der Stadt.
Das Schweizer Establishment war nicht beeindruckt. «Du muesch öpis schaffe», hiess es, richtige Arbeit sei wichtig. Die damalige Schweizer Elite bildeten ETH-Ingenieure, die nicht an Werbung glaubten; die Qualität des Produkts sollte selber für sich sprechen. Der Gedanke, Talente abzuwerben, war unschicklich.
Zehnder wandte sich Deutschland zu, wo sein Harvard-Zimmergenosse Al McDonald das Geschäft von McKinsey aufbaute und ihm wertvolle Kontakte zu deutschen Industriellen verschaffte. Zehnder machte sich einen Namen als begabter und zuverlässiger Entdecker von Talenten. Neue Büros wurden systematisch eröffnet, als die Gewinne wuchsen: Paris, São Paulo, New York, Istanbul und Deli. Er baute in aufstrebenden Märkten wie Brasilien, Deutschland, Indien, Singapur und der Türkei dominante Positionen auf.
Irgendwann während eines unserer Mittagessen fragte ich ihn: «Wie laufen die Geschäfte in Indien?», da zog er diskret ein handliches A4-Blatt mit Erfolgskennzahlen zur Leistung verschiedener Büros aus seiner Brusttasche und kommentierte diese wie ein fanatischer Anhänger der ZSC Lions. Trotz seines Charmes und seines Enthusiasmus bewies er auch die Aufmerksamkeit eines Uhrmachers für Leistung.
Mehr Büros bedeuteten, dass Zehnder in mehr Teichen nach Talenten fischen konnte. Mit mehr Beratern kamen mehr Mandate, und die Talentpools schwollen an. «Es war wichtig, auf der Shortlist von Zehnder zu stehen», erklärt ein ehemaliger Kommunikationschef von ABB.
Trotz seines amerikanischen Optimismus und seines can do-Geistes waren seine Werte konservativ und entsprachen dem klassischen «Homo helveticus» – mit Respekt für Familie, Karriere, Gemeinschaft und Militär. Zu seinem engsten Kreis gehörten Hans Baer, Haro Bodmer, Ulrich Bremi und Fritz Gerber, die alle aus einem ähnlichen Holz geschnitzt waren. Aber seine fünf Kinder und sechzehn Enkelkinder, von denen die meisten nur wenige Meter von ihm entfernt in Küsnacht lebten, bedeuteten ihm mehr als alles andere.
Einer der wenigen Kritikpunkte an Zehnder ist schlichtweg das Fehlen von Kritik. Selbstbewusste Führungskräfte, die davon ausgehen, dass der nächste Anruf von Egon Zehnder kommen könnte, der sie bittet, einen Sitz in einer Geschäftsleitung zu übernehmen oder als CEO zu fungieren, werden wahrscheinlich nicht kritisch sein. Für die Aussenwelt ist es nicht möglich, den Erfolg von Egon Zehnder zu messen oder seinen Misserfolg zu kritisieren.
Das grösste Manko und die grösste Gefahr für den Schweizer Wohlstand ist die fehlende Andersartigkeit. Entscheidungen über die Besetzung von CEO-Posten und Verwaltungsratspräsidien werden von Ausschüssen getroffen, und Unternehmen wie Egon Zehnder müssen ihre Kandidaten optimal auf die Zustimmung des Ausschusses vorbereiten. CEOs neigen dazu, sich gegenseitig zu imitieren, weil sie denselben Gipfel anstreben. Ihre Werdegänge sind oft bemerkenswert ähnlich: ein Abschluss der Harvard Business School, Erfahrung bei McKinsey und so weiter. Dieser Selektionszwang führt zu Konformität und «Gleichartigkeit» und dazu, dass Führungskräfte die Strategien ihrer Kollegen nachahmen – was zu geringeren Gewinnen führt.
Die Schweiz verdankt ihren Wohlstand ihrer Andersartigkeit. Ulrich Bremi schrieb: «Das Schweizer Erfolgsrezept war die Tradition, Persönlichkeiten mit Elan zu identifizieren, die die Einöde der Spezialisierung nicht verdrängen liessen und denen man deshalb vertraute.»
Wenn man die Geschichte des Schweizer Industrieerfolgs in Einzelschicksalen studiert, ist es eine unverkennbare Geschichte derjenigen, die einzigartige Wege wählten, anstatt andere zu imitieren. Eines von vielen Beispielen ist Roche. Fritz Gerbers Entscheidung, seinerzeit Genentech zu übernehmen, wurde vom Verwaltungsrat von Roche abgelehnt und erst genehmigt, als Paul Sacher, der Sprecher der Familie, sein Veto einlegte – etwas, das es heute nicht mehr gibt. Der grosse Teil der heutigen Gewinne des äusserst profitablen Roche-Konzerns geht auf diese eine schicksalhafte Entscheidung zurück.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass nur wenige der Personen, die den grössten Wert für die Schweizer Industrie geschaffen haben – wie Beyeler, Gerber, Hayek, Marchionne oder Schindler –, es in die zweite Runde der Vorstellungsgespräche bei einem normalen CEO-Suchprozess geschafft hätten. Als ich Egon Zehnder während unseres letzten gemeinsamen Mittagessens fragte, wer von den Schweizer CEOs oder Präsidenten grosser Schweizer Multis in den letzten zwanzig Jahren mutige Schritte unternommen oder die von ihnen geleiteten Firmen in eine wesentlich wettbewerbsfähigere Position gebracht habe, herrschte eine uncharakteristische Schweigepause.
Ironischerweise war Egon Zehnders «Anderssein» der Grund für seinen eigenen Erfolg. Das Unternehmen setzte auf Honorare statt auf Erfolgshonorare wie die anderen Wettbewerber. Zehnder schuf eine eisern gepflegte Kultur, die in bemerkenswerter Weise im Gegensatz zu den meisten Kunden stand, die er betreute. Bei Zehnder herrscht ein egalitäres Ethos, und die Vergütung ist teamorientiert. Im Gegensatz zu den genauen Stellenbeschreibungen, die mit den Kunden vereinbart werden, werden die Partner oft aus überraschenden Verhältnissen geholt und auf eine lange Karriere vorbereitet. Damien O’Brien, der frühere Vorsitzende, war ein Prediger in Sydney. Während der typische CEO drei bis fünf Jahre bleibt, liegt die Fluktuationsrate der Partner bei nur 2 Prozent pro Jahr. Einige haben sie mit einem Jesuitenorden verglichen. Andere haben gescherzt, dass Zehnder keine Kunden hätte, wenn die Unternehmen ähnlich geführt würden.
Nach dem Tod Egon Zehnders ist es vielleicht an der Zeit, sich zu fragen, was die Swiss AG so erfolgreich gemacht hat. Seine eigene Unangepasstheit und Andersartigkeit weisen den Weg. Denn Innovation bedeutet, etwas zu tun, das noch nie zuvor getan und das noch nie durch Nachahmung erreicht worden ist.
Als wir den «Club Baur au Lac» verliessen, verabschiedeten sich die Gäste von uns. Ich kam nicht umhin zu bemerken, wie Zehnder es schaffte, den Leuten das Gefühl zu geben, sie seien das Zentrum seines Universums. Als wir unsere Mäntel holten, forderte ich ihn auf, eine Biografie zu schreiben. «Unser Ruf ist, je weniger wir kommunizieren, desto besser», sagte er. Da wurde mir klar, warum so wenige etwas über ihn wussten.
R. James Breiding ist schweizerisch-amerikanischer Autor und Gründer von Naissance Capital. 2013 erschien von ihm «Swiss Made: The Untold Story behind Switzerland’s Success.»