Will man den westlichen Medien Glauben schenken, so hat sich das Blatt in der Ukraine gewendet.
Die Schlagzeilen überschlagen sich: Die grösste Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg – die russischen Invasoren flüchten kopflos zur Grenze zurück.
CNN berichtete am Sonntag von einer riesigen Gegenoffensive.
Auch während dieser Woche blieb der Ton derselbe – die Wende im Krieg sei eingeleitet. Am Sonntag war auf Twitter zu lesen, dass etwas Wichtiges passiere in Moskau: Die Kommunikation sei lahmgelegt, und Panzer stünden in den Strassen – ein Staatsstreich. Zum Letzteren: Ich war gerade zu Fuss unterwegs und schaute mir die Stände zum 875-Jahre-Jubiläum an.
Solche Horror-Meldungen sind jedoch nichts Neues: Im Herbst 1998 weilte ich ebenfalls in Moskau, und damals schrieb die Financial Times, Panzer rollten ins Moskauer Zentrum und der Bürgerkrieg habe begonnen – damals einfach ohne soziale Medien –, aber Panzer waren auch damals keine da.
Was ist wirklich passiert in der Ukraine, und welches werden die möglichen Konsequenzen sein? Seit Monaten kündigte Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Offensive in Cherson an. Zuerst war von einem Millionenheer die Rede, dann legten sich die Ankündigungen etwas. Fakt ist, der ukrainische Generalstab riet von einer solchen Offensive ab.
Selenskyj setzte sich jedoch durch, da ein Sieg hermusste, um die gigantischen Waffen- und Geldlieferungen der USA und der Nato-Staaten zu rechtfertigen. Die Zahl der russischen Streitkräfte beläuft sich auf zirka 200.000 Mann – inklusive der Truppen aus dem Donbass. Den Russen standen anfangs zirka 700.000 ukrainische Soldaten gegenüber. Die Front misst 2000 Kilometer.
Die militärische Operation wird von den Russen somit mit einer sehr kleinen Streitmacht geführt, die unmöglich eine Front von 2000 Kilometer absichern kann. Es müssen Prioritäten gesetzt und somit auch Risiken eingegangen werden. Das zeigte sich nun in einem Frontabschnitt.
Die ukrainischen Streitkräfte starteten nicht eine, sondern zwei Offensiven: Anfang September startete die Offensive in Cherson, die sich innert kürzester Zeit zum Debakel für die Ukrainer entwickelte. Riesige Verluste an Soldaten und Material ohne nennenswerter Geländegewinne. Selbst die Washington Post sprach von einem Debakel – eine Zeitung, die nicht proukrainischer sein könnte.
In diesem Artikel wurde ein ukrainischer Panzerkommandant vorgestellt, der vor der militärischen Operation keinerlei Militärerfahrung hatte, im September jedoch bereits eine Panzergruppe kommandierte. Ein Hinweis dafür, dass Ukrainer nach einer Schnellbleiche als Kanonenfutter an die Front geschickt werden. Sein Nachfolger habe ebenfalls keine Erfahrung.
Die zweite Offensive der Ukrainer in der Region um Charkow endete jedoch ganz anders: Zwischen dem 4. und dem 9. September nahmen die Ukrainer eine grosse Fläche ein. Viel gekämpft wurde jedoch nicht.
Die Russen zogen sich sehr schnell zurück und überliessen den Ukrainern mindestens 2000 Quadratkilometer, die westlichen Medien sprechen von 6000. Das tönt nach viel, ist es aber nicht.
Die Russen kontrollieren über 120.000 Quadratkilometer der Ukraine. Somit entsprechen 2000 Quadratkilometer lediglich 1,6 Prozent.
Die Medienberichte, welche diesen Vormarsch die grösste Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg nennen, haben einmal mehr jedes Mass von Grössenordnungen verloren.
Die grösste Gegenoffensive, welche im Zweiten Weltkrieg geführt wurde, war die russische Operation Bagration im Juni 1944: Diese wurde gegen die Heeresgruppe Mitte der deutschen Wehrmacht geführt. Damals eroberten die Russen innert sechs Wochen zirka 400.000 Quadratkilometer, was mehr als der Fläche Deutschlands entspricht.
Bei der Operation Bagration standen 1,6 Millionen Russen im Einsatz. So viel zu den Grössenordnungen. Die jetzige Charkow-Offensive wurde von zirka 15.000 Ukrainern geführt, zirka 3000 Russen zogen sich zurück.
Am Dienstag schien es so, dass die Ukraine eine weitere Offensive um das Gebiet Saporischschja führt – dort liegt das grösste Atomkraftwerk Europas, das seit März unter russischer Kontrolle ist. Das ist brandgefährlich.
Die Russen andererseits greifen Bachmut an – eine Stadt mit zirka 70.000 Einwohnern und eines der letzten Ziele auf dem Weg, die Kontrolle im Donbass zu erreichen.
Welches könnten die Konsequenzen sein?
Dem grotesken Hurra-Geschrei der westlichen Medien zum Trotz ist diese Aktion eine klare Schlappe für die Russen – das ist unbestritten, und dies hat bereits Konsequenzen: Die russischen Ultranationalisten schreien nach Eskalation, Kriegsgegner haben ihre Auftritte – auch im russischen Fernsehen.
Eine erste Eskalation hat es bereits gegeben: Strom-Versorgungen wurden von den Russen angegriffen, um ukrainische Truppentransporte auf der Schiene zu behindern. Ein Novum – seit Februar hielten sich die Russen strikt daran, keine ukrainische Infrastruktur zu zerstören. Das hat sich geändert, und es ist zu hoffen, dass dies ein Einzelfall bleibt.
Weiter werden sich die Ukrainer, welche in den von den Russen verlassenen ukrainischen Städten und Dörfern wohnen, bei den Russen bedanken. Die Ukrainer suchen bereits nach Verrätern, wobei zu befürchten ist, dass die Definition sehr breit gefasst wird.
Was die russische Führung unter Präsident Putin unternehmen wird, ist reine Spekulation. Kreml-Sprecher Peskow liess vorgestern verlauten, dass eine Generalmobilmachung kein Thema sei. Dennoch, der jetzige Konflikt scheint von einer militärischen Spezialoperation in einen Krieg der Nato gegen Russland zu münden oder bereits dort angekommen zu sein.
Verschiedene Quellen behaupten auch, dass von den zirka 15.000 Mann, welche die Gegenoffensive um Charkow führten, mindestens 20 Prozent ausländische Truppen beziehungsweise Berater aus Nato-Ländern gewesen seien, welche die westlichen Waffensysteme bedienten.
Zurzeit ist die Situation sehr unübersichtlich. Darin jedoch eine Niederlage der Russen hineinzuinterpretieren, ist verfehlt.