Auf die Frage, in welchem Monat am meisten gestorben wird, antworten die meisten: im November. Der Grund dafür mag darin liegen, dass der elfte Monat des Jahres auch Trauermonat genannt wird wegen all der kirchlichen Gedenktage: Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag. Wahrscheinlich führt das Erinnern an die verschiedenen Heiligen, Gläubigen und auch ohne Gott Verstorbenen zum Glauben, der Tod bevorzuge den November. Tatsächlich mag er den Februar lieber.

Womöglich liegen die Todesnähe und die allgemeine Unbeliebtheit dieses Monats auch daran, dass im November das Sterben eines Jahres beginnt; das Sonnenlicht schwächelt in Agonie, Bäume machen Chemotherapie, der Sommer wird mit jedem Tag mehr zur Erinnerung. Aus all dem Werden im Warmen ist kaltes Vergehen geworden.

Kann man den November, das erklärte Arschloch unter den Monaten, mögen oder gar lieben, wenn man keine psychische Deformation in sich trägt? Wenn man nicht Melancholiker, Depressiver, Masochist oder gar Sadist ist? Diese Tage, die uns hinter die Wände unserer Häuser treiben und uns dort für lange Zeit festhalten? Diese Tage, in denen die Erde auf ihrer Bahn der Sonne zwar immer näher kommt, diese aber immer ferner scheint? Diese Tage, die fern von Verlockungen scheinen, die einen bleiernen Mantel statt Flügel zu tragen scheinen, die das Singen von Vögeln unhörbar in die Ferne tragen?

 

Glutofen des Herbeigesehnten

 

Ich mag den November, ich liebe das alles. Er ist der Monat der Existenzialisten und vor allem der Romantiker und Sentimentalisten. Nie sind Verlangen und Sehnsucht von einer derartigen Kraft. Während die Welt in Nebelfelder sich auflöst, scheint das Zukünftige in seiner hellsten Sonne. Wir Tagediebe können uns nie leichter und näher und realistischer, wenn man so will, zu den Paradiesen hinträumen.

Der November ist der Glutofen des Herbeigesehnten, er ist ein Schlaraffenland für all jene, denen das Ungreifbare im Zukünftigen näherliegt als das Hier und Jetzt, weil es für Romantiker und Sentimentalisten ungemein erfüllender ist, sich irgendwohin hinzuträumen, als dort auch tatsächlich zu sein, weil das Dort zwangsläufig immer zu einem Ort wird, dem die Sehnsucht entfliehen will.

Nur das Karge ist in der Lage, das Kostbare zu offenbaren. Dieser Tage schien eine unüblich kräftige Novembersonne, und jeder Sonnenstrahl war ein Geschenk. Man setzte sich in ein Café, richtete sich zur Sonne aus und schloss die Augen und schwamm in diesen Wärmewellen all der momentanen Unbill der Welt davon. Es gab für die Dauer dieser ganz kleinen Ewigkeiten keine Sehnsucht mehr, kein Verlangen, keinen Virus. Es gab nur Dankbarkeit und eine Portion Demut.

Der November ist ein Monat voller Musik, und sie ist kein Requiem, kein Trauergesang. Es ist eine Melodie, die so leise ist wie das Rascheln von auf den Boden gefallenen Blättern, wenn der Wind sie noch einmal und zum letzten Mal in die Lüfte trägt. Sein Klang ist so zart und so vergänglich wie der erste Raureif auf den Dächern, wie das letzte Singen einer Amsel. Das sind seine Jubelstimmen, die kalte Hände wärmen und einfrierende Seelen auftauen. November ist ein jährliches Sterben, ein kleines Verstummen des lauten Seins, das bereits die Symphonie eines neuen Lebens in sich trägt. Der November trägt vielleicht einen Trauerflor, aber schwarz ist er nicht.

Nie ist der November mehr als eine spröde Schönheit, der es fernliegt, uns zu umgarnen. Ihre Reize, ihr Lächeln scheinen stets frostig. Sie ist launisch, schenkt da eine letzte Sanftmut des Klimas, dort an Körper und Seele zehrende Herbststürme. Sie kommt nicht daher im Galarock der heiteren Verschwenderin, sondern nur im nüchternen Gewand einer kühlen Realistin. Das macht den November zum ehrlichsten Monat im Kalender.

 

Monumentale Transformationskraft

 

Wir Menschen sind Mai und Juli, August und September auch, aber vielmehr sind wir November. Vielleicht mögen ihn viele deshalb so wenig. Weil er launenhaft ist und kantig, in sich zerrissen und widersprüchlich, weil er lieblos scheint und oft ohne Empathie. Weil er uns auf uns selbst zurückwirft und wir merken, wie nackt und verletzlich und schnell fröstelnd wir unter all den Pullovern und Mänteln sind. Weil er ist wie ein Räuber, der uns die Leichtigkeit stiehlt. Weil wir das Laute für lebendiger halten als das Stille und wir uns im Stillen zu verlieren scheinen oder zumindest zu verirren, weil uns das Ertragen der Gegenwart von Stille ob all dem Geächze der Welt abhandengekommen ist. Es scheint beinahe, dass Stille nur in der Sehnsucht noch ertragbar ist.

So sitzen die meisten hinter ihren Fenstern und schauen nach draussen auf den November und sehnen sich fort und träumen sich weg von ihm und sehen in Landschaften der Hoffnungslosigkeit. Fühlen ein Vergehen, ein Sterben, Vergeblichkeit vielleicht und tun sich leid oder nehmen übel. Sie haben den November nicht begriffen, diesen Monat, der wie kein anderer in seiner monumentalen Transformationskraft uns zu uns selber hinführen könnte, zum Wesenskern unserer Form der Existenz. Wer sich jetzt des Novembers nicht freut, der freut sich nimmermehr.

Dieser Text erschien erstmals in der Ausgabe vom 19. November 2020.