Dieser Artikel erschien zuerst in der Berliner Zeitung.

Medial kaum kritisch gewürdigt und ohne öffentliche Diskussion vereinbarten die Regierung der USA und die deutsche Bundesregierung am Rande des Nato-Gipfels am 10. Juli 2024, ab 2026 Raketen, Marschflugkörper und Überschallwaffen mit Reichweiten zwischen 460 und 3000 Kilometern in Deutschland aufzustellen.

In der Begründung heisst es, dass eine Befähigungslücke der Nato bei landgestützten Waffensystemen gegenüber vergleichbaren russischen Systemen, wie etwa die Iskander-Raketensysteme im Oblast Kaliningrad, geschlossen werden müsse. Bei der Implementierung geht es vor allem darum, den USA im Kriegsfall aus Deutschland heraus den Einsatz von Waffensystemen zu ermöglichen, mit denen sie mit minimalen Flugzeiten der Geschosse in die Tiefe Russlands zur Neutralisierung entsprechender russischer Basen wirken können, ohne dass sich die USA selbst gefährden.

Moskau wird reagieren – Deutschland rückt ins Visier russischer Nuklearwaffen

Im schlimmsten Fall wird damit die Sicherheit Deutschlands, vielleicht sogar Europas, von der Sicherheit Nordamerikas getrennt werden und ein auf Europa beschränkter Nuklearkrieg möglich. Ein aussen- und sicherheitspolitisches No-Go aus deutscher Sicht!

Als Folge wird Russland mit einer weiteren Stationierung von Mittelstreckensystemen im Westen des Landes beziehungsweise in Belarus reagieren, die unser Land noch stärker ins Visier russischer Nuklearwaffen nehmen. Damit beginnt zwangsläufig eine Aufrüstungsspirale mit Deutschland im Zentrum.

Die bilaterale amerikanisch-deutsche Vereinbarung reagiert zwar auf eine entsprechende russische Bedrohung und erhöht beziehungsweise verstärkt die militärische Abschreckung des Nato-Bündnisses. Da jedoch Deutschland im Kriegsfall das Aufmarschgebiet und die logistische Plattform des Bündnisses wäre, wird die in Gänze schutzlose deutsche Bevölkerung einem sehr hohen Risiko ausgesetzt, ohne dass sie dazu selbst gefragt wird. Das Risiko im Kriegsfall betrifft zudem exklusiv unser Land und wird nicht von anderen Bündnispartnern geteilt.

Beim Nato-Nachrüstungsbeschluss 1979 war das noch ganz anders: Damals waren weitere Bündnispartner bereit, Raketensysteme der USA auf ihrem Territorium zu stationieren. Die Tragweite der Entscheidung wurde mit anderen Bündnispartnern geteilt und darüber hinaus mit Abrüstungsmassnahmen verbunden.

Gerade Deutschland legte damals sehr viel Wert darauf, sich nicht, so wie bei dem kürzlich getroffenen Beschluss, sicherheitspolitisch singularisieren zu lassen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt knüpfte sein politisches Überleben an diese bündnispolitisch wichtige und hinsichtlich der nationalen Interessenlage existenzielle Frage. Helmut Kohl setzte schliesslich als Bundeskanzler den Beschluss 1983 regierungsseitig durch – nach einer ausgiebigen Befassung und Abstimmung im Deutschen Bundestag.

Eine breite gesellschaftliche und politische Debatte ist nötig

Zudem gab es eine breite, kontroverse, innenpolitische sowie bündnisinterne Diskussion. Eine damals relativ neue politische Partei, die Grünen, profilierte sich in dieser Debatte und führte die öffentliche Frontstellung gegen eine einseitige Stationierung an. Schliesslich erfolgte zwar die Stationierung, dies aber im aus deutscher Sicht unverzichtbaren Verbund mit Diplomatie, Dialog und deeskalierenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollmassnahmen.

Die jetzige Stationierungsabsicht dagegen hat zahlreiche kritische, hinterfragbare und politisch zu diskutierende Schwachpunkte:

Zunächst handelt es sich um eine lediglich bilaterale, nicht eine gemeinsam im Nato-Bündnis getroffene Vereinbarung. Die getroffene bilaterale Entscheidung erfolgte zudem nicht nach einer entsprechenden vertieften bündnisinternen Diskussion. Die Stationierung erfolgt entgegen dem Prinzip der Lasten- und Risikoteilung ausschliesslich in Deutschland, das sich damit politisch und bezogen auf seine Sicherheit dramatisch exponiert und singularisiert. Die Stationierung der amerikanischen Waffen in Deutschland unterliegt im Kriegsfall nicht einer souveränen, nationalen Entscheidungsmacht. Zumindest ist das in der Erklärung nicht geregelt.

Eine öffentliche, politische und parlamentarische Diskussion und Befassung dieses schwerwiegenden Beschlusses unterblieb bislang. Dabei hat er sowohl sicherheitsfördernde, aber eben auch massiv unsere Sicherheit gefährdende Seiten. Die Stationierungserklärung ermöglicht gerade mit Blick auf die Hyperschallwaffen eine Überraschungsoption gegenüber Russland, die im Kriegsfall zu unkontrollierbaren Fehlperzeptionen und Gegenaktionen führen könnte, die ausschliesslich unser Land betreffen würden.

Zudem sind eine entsprechende Adaptierung der nuklearen Zielplanung Russlands gegenüber Deutschland sowie eine nukleare Nachrüstung Russlands absehbar.

Ausserdem gibt es keine politische Verbindung der beabsichtigten Stationierung mit Abrüstungsangeboten und -massnahmen. Auch die Möglichkeit, mit Russland über die Stationierung sicherheitsfördernd für Deutschland in Austausch zu treten, ist nicht vorgesehen.

In der notwendig zu führenden politischen Debatte ist es dringend geboten, diese kritischen Punkte zu thematisieren. Zudem sollte die Bundesregierung mit der neuen amerikanischen Administration im Herbst 2024 über ein Nachfolgeabkommen des INF-Vertrages mit entsprechenden Verifikationsmechanismen sprechen, das aus europäischer Sicht unverzichtbar ist für unsere Sicherheit.

Erich Vad ist Brigadegeneral a.D., Unternehmensberater und Publizist. Zwischen 2006 und 2013 war er Gruppenleiter im Berliner Bundeskanzleramt und Militär-politischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel