Überall ist nun zu lesen und hören: Die Sanktionen gegen Russland «wirken weniger als erwartet», «wirken noch nicht genügend» oder «müssen weiter verschärft werden». Wir sehen das anders. Die Sanktionen wirken so schlecht, wie zu erwarten war. Und ihre Verschärfung brächte hohe Kosten für die meisten Bürger Europas und Russlands, würde aber das Putin-Regime stärken.

Castro, Hussein, al-Assad, Milosevic

Schon viele autokratische Regierungen wurden vom Westen hart sanktioniert. Sie haben trotzdem gut und lange überlebt, so etwa die Regime von Fidel Castro, Saddam Hussein, Baschar al-Assad, der Kim-Clan oder die iranischen Mullahs. Wie geht das? Und gilt es auch für das Putin-Regime?

Die wirtschaftliche Wirkung von Sanktionen hängt davon ab, wie leicht sich das sanktionierte Land anpassen kann und wirtschaftliche Kontakte mit anderen, nicht an den Massnahmen beteiligten Ländern hat. Mit Russland wird das flächenmässig grösste Land sanktioniert, das eine breitgefächerte Volkswirtschaft besitzt. Allein schon deshalb ist es schwer zu isolieren und kann sich besser an Sanktionen anpassen als kleine, abhängige und spezialisierte Länder. Entsprechend war von Anfang an zu erwarten, dass Putin die Sanktionen leichter als Castro, Hussein, al-Assad, Milosevic ertragen kann. Gleichwohl wird die russische Wirtschaft und die Bevölkerung von den Sanktionen hart getroffen. Nur: Gerade das spielt Putin in die Hände. Wirtschaftlich wirksame Sanktionen stabilisieren in der Regel die sanktionierten Regime und mehren ihre Macht über die Bevölkerung. Wir sehen zehn Gründe für allgemeines Sanktionsversagen:

_ Erstens bewirken wirtschaftliche Sanktionen im Zielland eine Verknappung vieler Importgüter. Davon profitieren die inländischen Anbieter von Ersatzprodukten. Diese werden häufig vom Regime und seiner Entourage kontrolliert, die so zu Profiteuren werden.

_ Zweitens kann das Regime die knappen Güter rationieren. Wer Knappheit verwaltet und das wenige Vorhandene verteilt, kann regimetreue Kreise bevorzugen und so Kollaboration in der Bevölkerung erzwingen.

_ Drittens drückt ein Embargo der Exportprodukte, etwa des Erdöls, zwar oft auf die Deviseneinnahmen des sanktionierten Landes. Dem Regime aber kann das Vorteile bringen. Kann die Erdölindustrie nicht mehr frei exportieren, bringt das Regime sie leichter und noch vollständiger unter seine Kontrolle. Dann kann es das Öl sowie zukünftige Bezugsrechte an Regimefreunde und wohlgesonnene ausländische Regierungen zuteilen und so Unterstützung erkaufen.

_ Viertens profitiert das Regime vom Umgehen der Sanktionen. Ausweichbewegungen sind zwar mit Preisaufschlägen bei Importen und Preisabschlägen bei Exporten verbunden, aber der Handel bleibt trotzdem lukrativ. Falls das betroffene Land ein relevanter Exporteur eines sanktionierten Produkts wie beispielsweise Erdöl ist, kann es am internationalen Markt sogar zu Preiserhöhungen kommen, so dass die offiziellen Exporteinnahmen nur wenig sinken oder sogar steigen. Zudem dürfte der Westen vor konsequenten Sekundärsanktionen gegenüber Drittländern, die weiter mit dem Zielland handeln, zurückschrecken. Ansonsten würde die Energieversorgung und so die wirtschaftliche und politische Stabilität vieler Schwellen- und Entwicklungsländer gefährdet.

_ Fünftens befeuern Sanktionen das Schmuggelwesen. Schmuggelgewinne erzielen primär die sanktionierten Regime selbst, wie die riesigen Einnahmen der Regime von Milosevic in Serbien und Hussein im Irak illustrieren. Sanktionierte Regime können Schmuggler, die nicht mit ihnen kollaborieren, ans Ausland verpfeifen, das zur offiziellen Durchsetzung der Sanktionen das Schmuggelwesen unterbinden muss.

Bei einem Umsturz besteht das Risiko eines Machtvakuums mit totalem Chaos, wie das Beispiel Libyen zeigt.

_ Sechstens führt der sanktionsbedingte Abzug ausländischer Unternehmen zum Verkauf von deren Einrichtungen und Beteiligungen. Über die notwendigen Geldmittel und nationalen Bewilligungen zum günstigen Kauf der offerierten Beteiligungen verfügen vor allem regimenahe Kreise.

_ Siebtens sind Sanktionen oft mit Einschränkungen der Auslandreisemöglichkeit von grossen Teilen der Bürger des betroffenen Landes verbunden. Das reduziert deren Zugang zu unabhängigen Informationsquellen und stärkt den Einfluss der Regimepropaganda.

_ Achtens erschweren es Sanktionen der Opposition, aktiv gegen das Regime aufzutreten. Sie leidet besonders unter der Rationierung, der internationalen Kontrolle des Schmuggels und den eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten. Oft ist es für den Westen auch nicht klar, welche der verschiedenen Oppositionsgruppen unterstützungswürdig sind.

_ Neuntens leiden die Bürger des sanktionierten Landes zwar an der Wirtschaftskrise. Diese aber rechnen sie nicht immer der eigenen Regierung zu. Bei Sanktionen kann ein «rally ’round the flag» stattfinden, bei dem sich die Bevölkerung um die Regierung schart. Unter Sanktionen ist es für die Bürger rational, sich wenigstens nach aussen gegenüber dem Regime unkritischer zu verhalten, da sie Repressionen weniger ausweichen können.

_ Zehntens lähmt die sanktionsbedingte Verarmung bei gleichzeitiger Stärkung des Regimes die Anreize der Bürger, gegen das Regime aufzubegehren. Sie wissen, dass auf ein autokratisches Regime selten eine demokratische, bürgerorientierte Regierung folgt. Stattdessen folgt oft ein neues Regime, das dem alten ähnelt. Risikoreicher Widerstand bringt den Bürgern im Grunde fast nichts. Vielmehr besteht bei einem erfolgreichen Umsturz das Risiko eines Machtvakuums mit totalem Chaos, wie das Beispiel Libyen nach Gaddafi zeigt. Das ist für die Bürger noch schlimmer als Sanktionen.

Diese Mechanismen gelten nicht nur für traditionellere Handelssanktionen, sondern auch für «smart sanctions». Wenn etwa Oligarchen verboten wird, Beziehungen zu westlichen Banken zu pflegen, werden sie noch stärker vom Regime abhängig. Kredite und Liquidität gibt es dann nur noch dank seiner Gnade.

Aufgrund dieser Mechanismen lernen die Regime mit Sanktionen zu leben und sie sogar zu lieben, denn sie dienen ihnen indirekt als Machtinstrument gegen die Bürger. So scheint es auch im Falle von Russland zu sein. Dennoch können Sanktionen unter bestimmten Bedingungen Sinn machen. Ihr Einsatz sollte aber von rationalem Kalkül statt dem moralischen Gefühl, nun irgendetwas tun zu müssen, geprägt sein.

Ist es ein Kriegsvorspiel?

Sanktionen schwächen klar die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des sanktionierten Landes. Längerfristig reduziert dies das militärische Aggressionspotenzial. Das kann dazu genutzt werden, das Regime militärisch zu bezwingen, wie etwa in den Fällen von Milosevic in Serbien und Hussein im Irak. Gegen die Atommacht Russland erscheint ein solches militärisches Vorgehen auch langfristig weder besonders realistisch noch erfolgversprechend. Doch selbst nach der militärischen Beseitigung von Führern sanktionsgeschwächter Länder würde ein Vakuum drohen, das grösste Wiederaufbauanstrengungen bedingt, die selten schnelle Erfolge bringen.

Eine vielversprechende, wenn auch moralisch nicht leicht verdauliche Alternative ist, die Regime aktiv zu destabilisieren, indem der Handlungsspielraum einiger vermuteter Täter nicht mit Sanktionen verengt, sondern erweitert wird: Sie sollten eingeladen werden, sich ins Ausland abzusetzen, sich vom Regime loszusagen und wichtige Informationen preiszugeben, die in Rechtsverfahren vor internationalen Gerichten oder in ihrem Heimatland nach einem Machtwechsel zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verurteilung der Schuldigen beitragen. Um die richtigen Anreize zur Mitwirkung zu setzen, müssten ihre Strafen bei Preisgabe wichtiger Informationen gemindert werden, und sie müssten einen Bruchteil des von ihnen (illegal) angehäuften Reichtums legalisieren können, um ein neues Leben zu beginnen.

Diese Strategie entspricht einer Kronzeugenregelung, wie sie im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Mafia erfolgreich ist. Sie könnte auch gegen mafiöse Regime wie jenes in Russland gut wirken.

Dieser Text erschien erstmals in der Weltwoche Nr. 28/2022.