Suede: Autofiction. Warner

Blur oder Oasis? So lautet eine beliebte Frage unter Musikfreunden. Die richtige Antwort ist natürlich: Suede. Denn wer zu Britpop-Zeiten nur die ironiebesessenen Schnösel Blur oder die musizierenden Hooligans Oasis hörte, verpasste mit Suede eine Band, die mit ihren geschickten Anleihen bei David Bowies «Hunky Dory» den britischen Gitarrenrock im selben Masse neu erfand, wie das in den 1980er Jahren The Smiths taten.

Auch hatten die Texte von Brett Anderson nichts mit der Glorifizierung von «Cool Britannia» zu tun, wie sie für Britpop typisch war. «Ich träume davon, mit einem Lied über eine bizarre sexuelle Erfahrung in die Top Ten zu kommen», provozierte der androgyne Frontmann von Suede und verherrlichte im Song «Trash» den Lebensstil der Slackers – junger Erwachsener, die keine nützlichen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft werden wollten. «Wir sind die Liebenden, die auf der Strasse leben», sang Anderson. «Wir sind der Abfall im Wind.»

Nach drei grossartigen Alben, die die Kraft hatten, das Leben ihrer Fans zu verändern, stagnierten Suede seit Ende der 1990er Jahre künstlerisch. 2003 löste sich die Band auf, der Ikarus-Bogen jeder erfolgreichen Rockformation war vollendet: Aufstieg, Triumph, Fall. 2011 dann das Wunder: Wiedervereint für ein Benefizkonzert und überwältigt von der positiven Reaktion der alten und neuen Fans, realisierten die fünf Musiker, was für ein Potenzial noch immer in ihnen steckte.

Und so hob sich denn der Vorhang über Suede 2.0, die in den 2010er Jahren schafften, was nur wenigen Bands vergönnt ist: ein künstlerisch erfolgreiches Comeback. Orientierten sich die Alben «Bloodsports» (2013) und «Night Thoughts» (2016) noch an den Klassikern der 1990er Jahre, versuchten sich Suede mit «The Blue Hour» (2018) an einer musikalisch vielschichtigen Rockoper im Stil von «The Wall» und blamierten sich dabei keine Sekunde lang.

Mit «Autofiction» erscheint nun das jüngste Werk der Band, deren Sänger mittlerweile aussieht wie Bryan Ferry zu Zeiten von «Avalon», verwuschelter Seitenscheitel und gepflegte Anzüge inbegriffen. Der heroinsüchtige Brett Anderson von einst ist nur noch eine biografische Anekdote. Dieses Im-Leben-Angekommen-Sein kontrastiert mit dem Sturm-und-Drang-Vorgehen, das Suede für die Aufnahmen zum neuen Album wählten: Die Musiker besorgten sich den Schlüssel für einen verlassenen Proberaum, stellten ihr Equipment auf und spielten einfach drauflos. «‹Autofiction› ist unsere Punk-Platte», verkündete Anderson. «Nur wir fünf in einem Raum. Das ursprüngliche Chaos.»

Das Experiment ist geglückt. Dreissig Jahre nach ihren ersten Erfolgen mögen Suede nicht mehr die «kühnste, geheimnisvollste, sexyste, absurdeste, perverseste, glamouröseste, lächerlichste, ehrlichste, grössenwahnsinnigste, melodramatischste, faszinierendste Band sein, in die du dich je verlieben wirst», wie das britische Musikmagazin Melody Maker 1992 schrieb.

Aber die fünf Briten geben noch immer die Antwort auf eine entscheidende Frage: Wie würden die Pet Shop Boys klingen, wenn sie eine Rockband wären?