Vor fünfzig Jahren ereignete sich der «legendäre Milchpulverskandal», wie die Nichtregierungsorganisation Public Eye ihn genüsslich nennt. Unter dem Motto «Nestlé tötet Babys» startete die «Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern» im Jahr 1974 eine Kampagne gegen den Nahrungsmittelkonzern.

Dies war die wohl bekannteste Aktion überhaupt in der Geschichte der Entwicklungshilfeorganisationen hierzulande. Mit entsprechender Wehmut gedenkt man in diesen Kreisen der gloriosen Vergangenheit – und wünscht sie sich zurück.

So auch die Nichtregierungsorganisation Public Eye: «Nestlé macht Babys und Kleinkinder in einkommensärmeren Ländern zuckersüchtig», titelte sie unlängst zu einer neuen Studie. «Zwei der meistverkauften Babynahrungsmittelmarken von Nestlé enthalten in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen – anders als in der Schweiz – hohe Mengen an zugesetztem Zucker», schreibt sie weiter.

Diese Aussage ist gleich doppelt falsch: Einerseits existiert eine der beiden Marken in der Schweiz überhaupt nicht. Was nicht existiert, kann auch nicht zuckerfrei sein. Andererseits geht es im Fall dieser Marke – «Nido» respektive «Dancow» – in vielen Fällen nicht um zugesetzten Zucker, geschweige denn in «hohen Mengen».

 

Alles oder nichts, Schwarz und Weiss

Doch was ist dran an der Behauptung, dass Kinder im globalen Süden durch Zuckerzusatz in Babynahrungsmitteln von Nestlé frühzeitig an Zucker gewöhnt werden – hierzulande aber nicht?

Der erste Gang führt zum bekanntesten und ältesten Discounter der Schweiz. Weder in der ersten noch in der zweiten besuchten Filiale sind Babynahrungsmittel oder Babymilchpulver erhältlich. Mit einer Ausnahme: In der Ecke, wo für die Migrationsbevölkerung Nahrungsmittel aus ihren jeweiligen Heimatländern feilgeboten werden, findet man einen Kinderbrei namens «Cerelac» – der zweiten von Public Eye ins Visier genommenen Marke –, hergestellt in Portugal, Beschriftung in portugiesischer Sprache. Auf der Liste der Zutaten: sacarose, also Haushaltszucker.

Weiter zu einem der beiden bekanntesten Grossverteiler hierzulande: Neben der Babymilch «Beba Optipro» von Nestlé (ohne Zuckerzusatz) findet man Milchgriess von Cerelac, prominent gekennzeichnet mit «40 Prozent weniger Zucker». So viel zu den angeblich zuckerfreien Babynahrungsmitteln von Nestlé in der Schweiz. Daneben drei weitere Breiprodukte von Nestlé – diesmal alle ohne Zucker.

Zwar relativiert Public Eye nach dem «knackigen» Titel gleich selber: «Während in der Schweiz die wichtigsten von Nestlé vertriebenen Getreidebreie und Folgemilchprodukte für Babys und Kleinkinder frei von Zuckerzusatz sind, enthalten die meisten entsprechenden Produkte, die Nestlé in Ländern mit niedrigeren Einkommen verkauft, zugesetzten Zucker, oft in hohen Mengen.» Aus alles oder nichts, Schwarz und Weiss, wird ein unklares «die wichtigsten», «die meisten».

In einem Punkt bleibt Public Eye jedoch bestimmt: «Obwohl einige Cerealien für Kinder über einem Jahr zugesetzten Zucker enthalten, sind alle für Babys ab sechs Monaten [in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien] frei davon.» In der Schweiz jedoch ist der Milchgriess von Cerelac mit «40 Prozent weniger Zucker» explizit gekennzeichnet für Kinder ab sechs Monaten.

Rund zehntausend Kilometer südöstlich, in Indonesien. Kaum angefragt, antwortet die Kontaktperson spontan: «Wir kaufen normalerweise keine Nestlé-Produkte, da zu süss.» Dies zeigt nicht so sehr, dass die Produkte zu süss sind, sondern vor allem, dass es auch in Indonesien Konsumentensouveränität gibt und die Menschen dort nicht einfach alles kaufen, was ihnen vorgesetzt oder gerade besonders intensiv beworben wird.

Zu Indonesien schreibt Public Eye: «Mit einem Umsatz von über 400 Millionen US-Dollar im Jahr 2022 ist Indonesien der weltweit grösste Markt für Nido, vor Ort als Dancow bekannt. Beide Produkte für Kinder ab einem Jahr, die Nestlé in diesem Land verkauft, enthalten Zuckerzusatz.»

 

Genau wie in der Schweiz

Studiert man die Zutatenliste, stellt man fest: Dancow für Kinder ab einem Jahr enthält 3 Prozent, die Variante für Kinder über drei Jahren 4 Prozent Honig. Aber keinen Zucker. Dennoch empört sich Public Eye: «Der Konzern hat keine Hemmungen, die Produkte als ‹ohne Saccharose› zu kennzeichnen, obwohl sie Zuckerzusatz in Form von Honig enthalten.» Auch das ist falsch: Honig enthält Glukose und Fruktose, aber keine Saccharose.

Die NGO vergleicht hier Äpfel mit Birnen – und führt die Öffentlichkeit damit in die Irre.Tatsächlich gibt es in Indonesien bei der Babymilch nicht bloss die Produktlinie Dancow, sondern auch die etwas höherwertigeren und rund einen Drittel teureren Linien Lactogen beziehungsweise Lactogrow. Diese sind auch ohne zugesetzten Honig erhältlich, entsprechend besteht der Zucker dort vollumfänglich aus Milchzucker, genauso wie in der Schweiz.

Die NGO vergleicht hier Äpfel mit Birnen – und führt die Öffentlichkeit damit in die Irre –, wenn sie eine in der Schweiz gar nicht erhältliche Marke mit einem höherwertigeren Produkt in der Schweiz vergleicht – obwohl auch im Ausland ein höherwertigeres Produkt ohne Zuckerzusatz erhältlich ist.

Von Public Eye erfolgte innerhalb der gesetzten Frist keine Stellungnahme.

Thomas Baumann ist Ökonom und freier Autor.