Wie kaum eine andere Kulturpflanze spaltet Hanf die Menschheit, und es gibt nur wenige Themen, die bei Ärzten, Wissenschaftlern, Forschern, politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit so viele Emotionen wecken wie medizinisches Marihuana: Auf der einen Seite die Verächter, die seinen Konsum kriminalisieren, und auf der anderen Seite die Verehrer, die den Hanf geradezu als universales Genuss- und Heilmittel preisen. Die Kontroverse verunsichert die Patienten und wirft Fragen auf: Werden Betroffene, die Cannabis als Tropfen oder Spray legal einnehmen, rücksichtslos einer gefährlichen Substanz ausgesetzt? Oder verpassen zum Beispiel Menschen mit multipler Sklerose ohne Cannabis-Therapie eine einmalige Gelegenheit, ihren Krankheitsverlauf mit einem natürlichen Heilmittel zu mildern? Die erwähnte Polarisation widerspiegelt sich auch in der medizinhistorischen Rückschau des seit Jahrhunderten zu medizinischen Zwecken verwendeten Cannabis. Auffallend, dass der faszinierende Weg vom legalen Status und von der häufig verschriebenen Arznei zur Illegalität und nun zurück zur Liberalisierung eher von politischen und sozialen Faktoren bestimmt war als von der Wissenschaft!

 

Quelle von ersten Heilmitteln

Hanf (Cannabis sativa) zählt zu den ältesten genutzten Kulturpflanzen der Menschheit, und schon in vorchristlicher Zeit hat der Homo sapiens sich die vielfältigen Eigenschaften der Pflanze zunutze zu machen gewusst, sei es zur Fasergewinnung, sei es für die Zubereitung von Nahrungsmitteln oder als Heilmittel zur Linderung von Schmerzen. Die Anfänge der medizinischen Verwendung der Hanfpflanze reichen über China, Indien, Ägypten und Assyrien weit in die vorchristliche Zeit zurück, wobei die erste schriftliche Angabe zur medizinischen Nutzung auf ein 2500 Jahre altes chinesisches Lehrbuch der Botanik und Heilkunst zurückgeht. Später genoss Cannabis auch im Europa des frühen Mittelalters als Heilmittel ein hohes Ansehen, und Hanf wurde beispielsweise gegen Husten und Gelbsucht eingesetzt. Detailliert wird auf die Wirkung von Hanf durch die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) in ihrer Heilmittel- und Naturlehre «Physica» eingegangen, wo sie die Vorzüge der Substanz gegen Magenschmerzen hervorhebt, aber einschränkend – in weiser Voraussicht – bemerkt, dass nur solche, die «gesund im Hirn sind», davon profitieren. In den folgenden Jahren wurde Hanf noch in den meisten Kräuter- und Arzneibüchern erwähnt, und dies obschon im Jahre 1484 Papst Innozenz VII. Cannabis verbot, weil er in dieser Pflanze ein unheiliges Sakrament der Satansmesse sah. Das Interesse an Cannabis und an Kräuterbüchern nahm allerdings im Zuge der Aufklärung ab.

 

Verbotene Medizin

Erst nach der Veröffentlichung einer umfassenden Studie über die medizinische Anwendung der Pflanze im Jahr 1839 durch den in Kalkutta stationierten irischen Arzt William O’Shaughnessy fand Cannabis als «indischer Hanf» wieder Eingang in den europäischen Arzneischatz. In seiner Arbeit liefert er viele Beispiele für den Einsatz von Hanf bei Krampfzuständen, wie sie bei Tollwut, Cholera und Tetanus auftreten können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Cannabis unter anderem bei Migräne, Neuralgien, epilepsieähnlichen Krämpfen und Schlafstörungen eingesetzt.

Papst Innozenz VII. verbot Cannabis, weil er darin ein unheiliges Sakrament der Satansmesse sah.Cannabis war, bis es im Jahre 1898 durch Aspirin und eine breite Palette neuer synthetischer Medikamente abgelöst wurde, das in Amerika am häufigsten eingesetzte Schmerzmittel. In Europa, auch in der Schweiz, waren um 1850 über hundert Cannabismedikamente erhältlich. Dosierungsschwierigkeiten, paradoxe Wirkungen und die Entwicklung wirksamerer, intravenös verabreichbarer Medikamente führten dann zu einer Abnahme von Cannabisverschreibungen. Aufgrund von Problemen bei der Qualitätskontrolle und vor allem aufgrund politischen Drucks in einer Welt des zunehmenden Drogenmissbrauchs wurde Cannabis jedoch 1961 aus den modernen westlichen Arzneibüchern verbannt, als die Vereinten Nationen erklärten, dass Cannabis keine medizinische Wirkung besitze, und es dem Heroin gleichstellten!

 

Entdeckung Endocannabinoid-System

Glücklicherweise blieb es den Wissenschaftlern erlaubt, die Cannabispflanze weiter zu erforschen. So gelang es 1964 den israelischen Wissenschaftlern Yechiel Gaoni und Raphael Mechoulam, die chemische Struktur des Hauptcannabinoids, des psychoaktiven THC, aufzudecken, nachdem Mechoulam bereits 1963 dasselbe mit dem nichtpsychoaktiven Cannabidiol (CBD) gelungen war. Die Entdeckung des körpereigenen Endocannabinoid-Systems und das Auffinden der Cannabinoid-Rezeptoren zu Beginn der 1990er Jahre war dann ein weiterer Meilenstein in der Cannabisforschung. Im Zuge dieser neuen Erkenntnisse haben verschiedenste Länder Anstrengungen unternommen, Cannabispräparate oder Cannabinoide (THC bzw. Dronabinol, CBD, Nabilon, Nabiximol) verkehrsfähig zu machen. In den letzten Jahren war es vor allem das Cannabisextrakt enthaltende Fertigarzneimittel Nabiximols (Sativex), das sich nebst den Individualrezepturen (v. a. Dronabinol) etablieren konnte. Ein neuerlicher Schritt in diese Richtung war die Zulassung des CBD-haltigen Medikamentes Epidiolex zur Behandlung schwerer Epilepsieformen durch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Juni 2018. Abschliessend sei erwähnt, dass im November 2018 eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe der WHO erneut die Risiken von Cannabis, THC und CBD detailliert untersucht hat und zum Schluss kam, dass die aktuelle Einstufung (Cannabis mit Heroin in derselben Gruppe) nicht mehr gerechtfertigt sei, und gleichzeitig den medizinischen Nutzen von Cannabis anerkannte. Gemäss den Empfehlungen der WHO sollen Cannabisblüten und Haschisch aus der Liste der gefährlichsten Drogen, der Anlage IV der «Single Convention», gestrichen und nur in der Liste der weniger gefährlichen Drogen der Anlage I aufgeführt werden. CBD-Präparate sollen, solange der THC-Gehalt 0,2 Prozent nicht übersteigt, gänzlich aus der «Single Convention» entfernt werden. Der bekannte Cannabiswirkstoff THC soll in den Anlagen der internationalen Drogenübereinkommen so verschoben werden, dass seine medizinische Anwendung erleichtert wird, nicht jedoch die Freizeitanwendung!

 

Mit Rezept erhältlich

«From Pariah to Prescription» – unter dieser prägnanten Überschrift beschrieb Ethan Russo, ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, die Entwicklung der Meinungen über medizinisches Cannabis in den letzten drei Jahrzehnten. Bei uns in der Schweiz hat sich diese Entwicklung am 1. August 2022 konkretisiert, als das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Notwendigkeit einer Sondergenehmigung für die Verschreibung von Cannabisarzneimitteln aufhob. Mit dieser Revision des Schweizer Betäubungsmittelgesetzes erhofft sich der Gesetzgeber, dass mit geringerem administrativem Aufwand mehr Patienten Zugang zu medizinischem Cannabis erhalten. Diese Gesetzesänderung steht im Übrigen ganz im Einklang mit der Mission der 2021 gegründeten Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin (SGCM), die einen wissenschaftlich rationalen, entstigmatisierten und vereinfachten Zugang zu Therapien mit medizinischem Cannabis fördern will. Für den Bezug von Präparaten mit einem THC-Gehalt von einem Prozent oder mehr benötigt jede Patientin und jeder Patient ein Betäubungsmittelrezept. Eine Bewilligung des BAG ist seit dem 1. August 2022 nicht mehr erforderlich. Im Rahmen einer Verschreibung sind die Ärzte jedoch verpflichtet, dem BAG über das Onlinemeldesystem (www.gate.bag.admin.ch/mecanna) Informationen über die Behandlung zu übermitteln. Für reine CBD-Präparate (weniger als ein Prozent THC) reicht eine normale ärztliche Verschreibung aus.

Interessanterweise ist diese administrative «Öffnung» nicht das Ergebnis eines wissenschaftlich besser belegten Nachweises der Wirksamkeit von Cannabis, sondern lediglich das Ergebnis eines fast exponentiellen Anstiegs der beim BAG eingereichten Anträge auf eine Sondergenehmigung durch die Patienten und ihre Ärzte! (Notabene: Zwischen 2012 und 2019 hat das BAG fast 15 000 sogenannte Ausnahmebewilligungen erteilt.) Im Vergleich zu einigen anderen Arzneimitteln weisen Arzneimittelzubereitungen auf Cannabisbasis eine geringe Toxizität auf. Letale Dosen beim Menschen sind bislang nicht bekannt, und eine Entwicklung zur Abhängigkeit ist bei korrekter Anwendung des Arzneimittels äusserst gering. Weiter können medizinische Präparate auf Cannabisbasis in der Regel als Ergänzung zu bestehenden Medikamenten verwendet werden.

 

Das Cannabis-Dilemma

Den oben erwähnten Sachverhalt klärend, wies Cannabis-Pionier Professor Rudolf Brenneisen bereits 2018 in seinem Eröffnungseditorial der Fachzeitschrift Medical Cannabis Cannabinoids auf die noch bestehende Kluft zwischen empirischen und evidenzbasierten Daten hin. Es bestehe eine Diskrepanz, führt er weiter aus, zwischen dem, was selbstbehandelnde Patienten behaupten, nämlich dass Cannabis und Cannabinoide wirksame Heilmittel sein können, und dem, was kontrollierte klinische Studien beweisen. Letztlich bedauert er den Umstand, dass zu oft positive Patientenberichte als anekdotisch diskriminiert werden.

Franjo Grotenhermen, renommierter deutscher Cannabis-Arzt und Autor vieler Cannabis-Fachbücher, definiert diese unbefriedigende und für beide Seiten frustrierende Situation als «Cannabis-Dilemma». Während Ärzte durch ihre chronisch erkrankten Patienten von den positiven Wirkungen von Cannabis erfahren, kann die evidenzbasierte Medizin in den meisten Fällen diese Erfahrungen nicht erklären. Das beschriebene Dilemma besteht darin, dass man Patienten eine wirksame Therapie nicht vorenthalten darf, aber alle Medikamente einer strengen Prüfung bezüglich ihrer Wirksamkeit unterziehen sollte. Auch medizinisches Cannabis muss – wie jedes andere natürliche oder synthetische Medikament – die strengen Arzneimittelprüfungen durchlaufen, und dies ohne den Bonus eines jahrtausendealten, bewährten Bestandteils der traditionellen Medizin zu beanspruchen. Obwohl dies in jeder Hinsicht eine enorme Herausforderung darstellt, sollte es die Wissenschaftler motivieren, ihre Forschung zu intensivieren.

Konkret berichten Patienten und Ärzte einerseits von einer Fülle von positiven Wirkungen bei vielen chronischewn Erkrankungen, darunter Schmerzerkrankungen unterschiedlichster Art, von Phantomschmerzen bis zur Migräne, chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Colitis ulcerosa und Rheuma, psychiatrische Erkrankungen wie Zwangsstörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörung, neurologische Erkrankungen wie multiple Sklerose und Tourette-Syndrom, Appetitlosigkeit und Übelkeit. Andererseits ist die wissenschaftliche Datenbasis, so wie man sie heute für moderne Medikamente verlangt, bisher nur für wenige Erkrankungen vorhanden. In der Tat kommen die verschiedenen Metaanalysen zum therapeutischen Potenzial von Cannabis alle zu dem Schluss, dass das Beweisniveau in klinischen Studien, in denen Cannabis mit einem Placebo verglichen wird, oft bescheiden oder sogar schwach bleibt. Aus diesem Grund übernehmen heute die Krankenkassen nur ungern die Kosten für dieses Medikament!

Gemäss diesen Metaanalysen gibt es lediglich hinreichende Belege für die Verwendung von Cannabinoiden, zu denen THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) gehören, bei bestimmten Indikationen wie bei Übelkeit und Erbrechen im Zusammenhang mit Chemotherapie oder bei Spastik, vor allem bei multipler Sklerose. Es ist jedoch nicht klar, ob Cannabinoide Schmerzen lindern können, und wenn ja, ob nur bei neuropathischen Schmerzen, und der Nutzen wäre dann lediglich bescheiden. Ebenfalls auf einer schwachen Evidenz basiert die Annahme, dass Cannabinoide den Appetit und die Gewichtszunahme bei Aids-Patienten steigern, die Symptome von Schlafstörungen verbessern und die des Tourette-Syndroms lindern. Ähnlich schwach ist die Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei der Behandlung von Angstzuständen, Psychosen und Depressionen.

 

In dubio pro reo

Einräumend muss erwähnt werden, dass diese systematischen Übersichtsarbeiten vor allem auf Untersuchungen mit der synthetischen Monosubstanz THC (Dronabinol) in niedriger Dosierung beruhen, während die Patienten bevorzugt Vollspektrumpräparate anwenden, die aus der ganzen Pflanze gewonnen werden und alle Wirkstoffe enthalten. Die aktuellen Studien bilden daher nicht die ganze klinische Realität ab. Ausserdem wächst allmählich das Wissen über diese Pflanze, die nicht nur reich an Cannabinoiden (über hundert verschiedene Typen), sondern auch an anderen nichtcannabinoiden Wirkstoffen (Terpenen) ist, die alle ihren eigenen medizinischen Nutzen haben könnten. Um die erwünschten Nebenwirkungen, welche von Spurencannabinoiden oder anderen Inhaltsstoffen der Pflanze hervorgerufen werden, zu beschreiben, wurde vom kürzlich verstorbenen Cannabis-Pionier Raphael Mechoulam treffend der Begriff «Entourage-Effekt» geprägt.

Trotz der Tatsache, dass die derzeitige unterstützende Evidenz von geringer Qualität ist, gibt es weltweit Zehntausende von Patienten mit chronischen Schmerzen, denen medizinische Cannabisprodukte verschrieben werden, und Hunderttausende, die illegale Cannabisprodukte zur Selbstmedikation ihrer chronischen Schmerzen verwenden. Viele haben legitime Erfahrungen mit einer dauerhaften Schmerzlinderung durch Cannabis, die nicht einfach ignoriert werden können. Es besteht eindeutig eine Diskrepanz zwischen den Aussagen der Kollegen an der Fakultät mit einer umschriebenen aktuellen Verschreibung und der breiten gemeinschaftlichen Verwendung von Cannabinoiden. Es ist zu hoffen, dass die Ergebnisse der nächsten Generation klinischer Studien zu Cannabinoidprodukten und Schmerzen helfen werden, diese Spannung aufzulösen. Wenn gesagt wird, dass es keine ausreichenden Beweise gibt, um medizinisches Marihuana zu empfehlen, so kann man dem entgegenhalten, dass es noch weniger wissenschaftliche Beweise dafür gibt, den Kopf in den Sand zu stecken.