Seit Beginn der Corona-Krise vor drei Jahren gibt China RĂ€tsel auf, die das ĂŒbliche Mass westlichen UnverstĂ€ndnisses ĂŒbersteigen. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden. Anfang 2020 erreichten uns zunĂ€chst seltsame Bilder aus Wuhan: Dort hatte der junge Augenarzt Li Wenliang scheinbar eine schreckliche, neuartige Erkrankung entdeckt, an der er selbst kurze Zeit spĂ€ter verstarb, nachdem er die Welt zuvor ĂŒber das hermetisch abgeschottete chinesische Internet informiert hatte. Details wie seine Einvernahme auf einer chinesischen Polizeistation machten stutzig, weil man dergleichen aus China sonst nie erfuhr.

Es folgten Bilder von Krankenhausneubauten ohne Fundamente, von Arbeitern in SchutzanzĂŒgen, die Trottoirs und Strassen desinfizierten, und von einer Abriegelung der Stadt Wuhan und einiger weiterer StĂ€dte. Aber schon im April 2020 war der Spuk vorbei und brĂŒstete sich China mit Corona-Zahlen, die, umgerechnet auf die Bevölkerung, nicht an ein Prozent der in Europa gemessenen Werte heranreichten.

Totale Kehrtwende

Anschliessend wurde es lange still um China, wĂ€hrend die ĂŒbrige Welt ihre BĂŒrger mit drastischen GrundrechtseinschrĂ€nkungen traktierte – mit Massnahmen, fĂŒr die es keine Evidenz gab und die weder in LehrbĂŒchern noch in WHO-Leitlinien vorgesehen waren. Dies wĂ€hrte bis Anfang 2022, als die meisten LĂ€nder ihre zum Scheitern verurteilten Versuche, ein Virus auszurotten, aufgaben und sich die Presse auf Xi Jinping und dessen Null-Covid-Politik einzuschiessen begann.

Als hÀtte man in den letzten drei Jahren nichts gelernt, beginnen die Sirenen in alter Manier zu heulen.

Man befĂŒrchtete Nachteile fĂŒr den Westen, weil Lieferketten gefĂ€hrdet wurden, und kritisierte Chinas Null-Covid-Politik als Menschenrechtsverstoss – wobei es keine Rolle spielte, dass man gleichlautende Forderungen europĂ€ischer Virologen frĂŒher als «die Wissenschaft» gefeiert und jeden Kritiker als rechtsradikalen Querdenker abgemeiert hatte. In dieser zweiten Phase mehrten sich Berichte ĂŒber landesweite AufstĂ€nde und Proteste. Anfang Dezember 2022 markierte eine totale Kehrtwende der chinesischen Corona-Politik den Beginn der dritten und letzten Phase: Nachdem die Corona-Zahlen zuvor rasant gestiegen waren, verfĂŒgte die Regierung urplötzlich die Aufhebung fast aller Massnahmen und unterband darĂŒber hinaus die Veröffentlichung weiterer Testergebnisse. Eigentlich war dieser Kurswechsel zu erwarten gewesen, nachdem sich weltweit gezeigt hatte, dass Corona der Influenza Ă€hnelt.

Das derzeitige Echo im Westen auf Chinas Kurswechsel ist umso befremdlicher. Als hĂ€tte man in den letzten drei Jahren nichts gelernt, beginnen die Sirenen in alter Manier zu heulen: Mangels offizieller Corona-Zahlen behilft sich die Presse mit nicht verifizierbaren Videos und westlichen Schockmodellen, die von 250 Millionen Infizierten und Millionen Toten binnen kĂŒrzester Zeit schwadronieren. Wie viele verfehlte Modellrechnungen hatten wir in Europa gesehen? Als wie gefĂ€hrlich hatte sich das Coronavirus in Wahrheit erwiesen, und zwar weltweit? Warum sollte es jetzt in China anders sein?

Schlagzeilen vom Typ «Totenstau im Krematorium» oder «Kliniken schliessen ihre Notaufnahmen» gab es schon vor Corona, wenn Infektionswellen zeitweise zu örtlichen Überlastungen des Gesundheitssystems fĂŒhrten. Die unbegreifliche neuerliche Hysterie um China hat bereits erste politische Folgen. So basteln einzelne europĂ€ische Staaten und auch die EU an völlig ĂŒberflĂŒssigen EinreisebeschrĂ€nkungen.

Xi, Lauterbach, Berset

Es bleibt die Frage, warum Xi so handelt. Viele sehen China als Land mit einer klugen Regierung, die langfristig denkt und damit letztlich erfolgreich sein wird. Klugheit entsteht aber durch Ideenwettbewerb, Kritik und offenen Austausch, nicht durch Autokratie, Anordnung und Repression abweichender Ansichten. Die Null-Covid-Ideologie ist hierfĂŒr ein gutes Beispiel, das fatal an den «Grossen Sprung nach vorn» erinnert: Ab 1958 sollte eine rationalistische Politik, die am Schreibtisch erdacht worden war, China nach ganz vorn katapultieren. Ein Ziel dieser Politik war, Spatzen als SchĂ€dlinge auszurotten. Nachdem dies weitgehend gelungen war, zeigte sich, dass Insekten, die zuvor von den Spatzen gefressen worden waren, ĂŒberhandnahmen und grosse Teile der Ernte vernichteten. Im Ergebnis kostete der «Grosse Sprung nach vorn» geschĂ€tzt vierzig Millionen Menschen das Leben.

Bei der Null-Covid-Ideologie sind die SchĂ€den gottlob begrenzt geblieben. Der Hauptgrund hierfĂŒr liegt darin, dass die Proteste im Westen eine Aufgabe der FreiheitsbeschrĂ€nkungen erzwangen und schliesslich auch auf China ĂŒbergriffen. Freiwillig hĂ€tten vermutlich weder Xi Jinping noch Karl Lauterbach oder Alain Berset von der fixen Ausrottungsidee abgelassen.

Stefan Homburg ist emeritierter Professor an der Leibniz-UniversitÀt Hannover. Sein Buch «Corona-Getwitter» erschien im Weltbuch-Verlag.