Wenn wir an Körperdysmorphie denken, stellen sich die meisten von uns Frauen vor, die in den Spiegel schauen und das Gefühl haben, zu dick oder nicht perfekt genug zu sein. Körperdysmorphie bezeichnet eine psychische Störung, bei der Betroffene eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers entwickeln und sich auf (vermeintliche) Makel konzentrieren, die andern oft gar nicht auffallen.

Die Krankheit wird häufig in Zusammenhang mit Schönheitsidealen für Frauen diskutiert. Was aber viele nicht wissen: Auch Männer sind betroffen – jedoch auf andere Weise. Während Frauen oft das Bedürfnis haben, schlanker zu sein, kämpfen viele Männer mit dem Gefühl, nicht muskulös genug oder zu dünn zu wirken, selbst wenn sie durchtrainiert oder sogar sehr muskulös sind.

Dieses Phänomen nennt sich Muskeldysmorphie, auch Adonis-Komplex; in der Gesellschaft ist es weitgehend unbekannt. Untersuchungen zeigen, dass Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren besonders anfällig für eine gestörte Körperwahrnehmung sind. In dieser Lebensphase bauen sie ihre beruflichen und sozialen Identitäten auf. Um ihren Auftritt – der ebenso wie bei Frauen von Schönheitsidealen geprägt ist – zu perfektionieren, arbeiten sie oft verbissen an einem muskulösen Erscheinungsbild, das ihnen den männlichen Schliff verleiht.

Vor allem Eltern stehen in der Verantwortung, ihren Kindern Selbstbewusstsein mitzugeben.

Social Media, die Keimzelle vieler negativer gesellschaftlicher Entwicklungen, haben einen grossen Einfluss darauf, wie sich Männer wahrnehmen und welche Körperideale sie anstreben. Auf Tiktok findet man unzählige Videos von Fitness-Influencern und Hobby-Bodybuildern, die ihre definierten Muskeln und durchtrainierten Körper zur Schau stellen. Mit Hashtags wie hgymgoals oder hnoexcuses wird den Zuschauern vermittelt, dass der «ideale» Männerkörper muskulös, fettfrei und perfekt proportioniert sein muss. Viele Nutzer vergleichen sich mit diesen Übermännern, die nicht nur beeindruckende Bodys haben, sondern auch unglaublich erfolgreich, charismatisch und diszipliniert sind, und rufen sich dabei gerne in Erinnerung, was für eine Enttäuschung sie selbst sind – die Skepsis gegenüber der demonstrierten Perfektion wird dabei ausgeblendet.

Denn natürlich sind viele der gezeigten Körperbilder unrealistisch: Neben perfekter Beleuchtung und Bildbearbeitung greifen manche Influencer zu fragwürdigen Präparaten oder Steroiden. Zudem verstärkt der Algorithmus die ständige Konfrontation mit solchen Inhalten, indem er ähnliche Videos kontinuierlich in die Feeds interessierter Nutzer einspielt. Schon Jugendliche und junge Männer, die sich gelegentlich für Fitness interessieren, werden durch diese konstante Bilderflut beeinflusst und entwickeln das Gefühl, mit diesem maskulinen Ideal mithalten zu müssen. (Ein weiterer, wenn auch harmloser Trend, der sich unter jungen Männern etabliert hat, ist das Kauen von jawliners: speziellen, teuren Fitnesskaugummis, die eine markantere Kieferpartie bewirken.)

Muskuläre Dysmorphie kann zur stillen Last werden, da es vielen schwerfällt, solche Schwächen einzugestehen, weil es in ihren Augen unmännlich wirkt. Und so entschliessen sie sich, von ihren Problemen keine Notiz zu nehmen, ziehen sich vielleicht sozial zurück und versinken in einem Teufelskreis aus Selbstkritik und Druck – während in der Isolation ihre Empfänglichkeit für Steroide oder sonstige riskante Nahrungsergänzungsmittel zunimmt, die als vermeintliche Lösung für ihre Unzufriedenheit gesehen werden.

 

Natürlich kann man sich fragen, ob die Sorgen unnötig sind und man jungen Menschen nicht einfach die Freiheit geben sollte, ihre Erfahrungen zu machen, aus denen sie ja auch lernen. Das stimmt sicher teilweise. Nur sind sie häufig nicht in der Lage, die Konsequenzen ihrer Entscheide abzuschätzen. Ausserdem sollte nicht vergessen werden, dass die Verletzlichkeit der menschlichen Natur ein wesentlicher Bestandteil des Geschäftsmodells von Plattformen wie Tiktok ist. Vor allem Eltern stehen in der Verantwortung, ihren Kindern starke Werte und Selbstbewusstsein mitzugeben und ein Bewusstsein für die Scheinwirklichkeit der digitalen Welt zu schaffen.

Körperdysmorphie als Problem wahrzunehmen, das nicht nur Frauen, sondern auch Männer betrifft, wäre schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.

 

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