Seit Jahren bewegt mich die Frage, wie es in und mit Deutschland eigentlich weitergeht. Daraus entstand 2010 «Deutschland schafft sich ab». Ich hatte die damals absehbaren Trends bei Demografie, Bildung und Einwanderung analysiert und einen kritischen Ausblick auf die künftige deutsche Entwicklung gegeben.

Auch die weiteren Bücher seit 2012 kreisten um verschiedene Teilaspekte dieser grundsätzlichen Frage. Es ging um die kritische Auseinandersetzung mit Wirtschafts-, Währungs- und Finanzfragen, mit Meinungsfreiheit und dem Islam. In der Summe ergab sich ein Panorama der wesentlichen Probleme, mit denen Deutschland konfrontiert ist.

 

Trends und Zustände

Mit dieser Problemsicht stiess ich nicht überall auf Gegenliebe. Gleichwohl lässt mich die Frage nach Deutschlands Zukunft auch heute nicht los. Anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift von «Deutschland schafft sich ab» sehe ich die Problemlage Deutschlands wie folgt:

_ Die langfristige Geburtenlücke von etwa einem Drittel zur Bestandsneutralität dauert an, innerhalb der niedrigen Geburtenzahl entfällt ein immer grösserer Teil auf Mütter mit Migrationshintergrund aus dem islamischen Kulturkreis, regional gesehen aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika. Bildungsferne Schichten und religiöse Fundamentalisten sind bei der Geburtenhäufigkeit weit überrepräsentiert. Das ist ein weltweiter Trend.

Viele Gegenmittel entziehen sich dem gesellschaftlichen Einvernehmen, für andere ist es schlicht zu spät.

_ Die kulturfremde Einwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika hat sich auf einem stabilen Niveau von jährlich 200 000 bis 400 000 eingependelt und ist damit weitaus höher als seinerzeit von mir in «Deutschland schafft sich ab» angenommen.

_ Die Bildungsleistung in Deutschland sinkt immer weiter ab. Der Anteil der Schüler, die selbst Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erfüllen, steigt fortlaufend an, während derjenige der Schüler mit Spitzenleistungen sinkt. Die gleiche Entwicklung sieht man unter den Schülern bei Sportlichkeit und Fitness.

_ Das sinkende Potenzial bei der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit junger Menschen zeigt sich nicht nur im Ausbleiben sportlicher Erfolge und in immer grösseren Mängeln bei körperlicher Fitness, sondern auch an der abnehmenden Zahl junger Menschen, die fähig und willens sind, Mint-Fächer zu studieren. In Deutschland muss man sich wachsende Sorgen um einen ausreichenden Nachwuchs an qualifizierten Ingenieuren und Naturwissenschaftlern machen.

_ Das belastet den Produktionsstandort Deutschland, das als Hochlohnland auf Vorsprünge in Wissenschaft und Technik angewiesen ist. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität hat sich bereits deutlich verlangsamt und ist nahezu zum Stillstand gekommen.

_ Die forcierte Energiewende entwertet teilweise den deutschen Kapitalstock. Sie schafft aber für sich genommen keinen neuen Wohlstand. Im Gegenteil, es droht die dauerhafte Abwanderung energieintensiver Produktionen aus Deutschland. Damit geraten darauf basierende Wertschöpfungsketten in Gefahr, ebenfalls aus Deutschland abzuwandern.

Liberales, ja sogar libertäres Gedankengut hat vor diesem Hintergrund eine grosse Zukunft.

_ Im Verkehrsbereich zeigt die physische Infrastruktur wachsende Verfallserscheinungen. Beim Ausbau der digitalen Infrastruktur ist Deutschland gegenüber Industrieländern vergleichbaren Entwicklungsniveaus weit zurückgefallen. In der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitswesen kommt die Digitalisierung nur langsam voran. Auch hier sind wir gegenüber vergleichbaren Industrieländern in Rückstand geraten.

_ In den öffentlichen Haushalten steigt der Anteil der Sozialausgaben fortlaufend an, während der investive Anteil kontinuierlich zurückgeht. Der Umfang stiller Lasten nimmt zu. Für den in wenigen Jahren einsetzenden Übergang geburtenstarker Jahrgänge ins Rentenalter wurde keinerlei Vorsorge getroffen.

_ Die Kriminalitätsbelastung in der Gesellschaft verlagert sich mehr und mehr auf Ausländer, Fluchtmigranten und die organisierte Kriminalität arabischer Clans.

_ Die durchschnittliche Allgemeinbildung gewählter Politiker nimmt dramatisch ab. Solide historische Kenntnisse werden bei aktiven Politikern zur Ausnahme. Unter den Mandatsträgern nimmt der Anteil jener zu, die weder einen beruflichen Abschluss noch ein abgeschlossenes akademisches Studium vorweisen können. Unter den akademischen Abschlüssen von Mandatsträgern – sofern sie vorhanden sind – dominieren sogenannte weiche Fächer wie Politikwissenschaft. Ingenieure, Naturwissenschaftler und Mathematiker kann man dagegen unter heutigen aktiven Politikern mit der Lupe suchen.

_ Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die etablierten Medien projizieren ein häufig gleichgeschaltet wirkendes Weltbild. Sie sind links beziehungsweise linksliberal dominiert und versuchen, die Öffentlichkeit, so weit sie ihnen zugänglich ist, in ihrem Sinn zu erziehen, etwa zu sexueller Diversität und gendergerechter Sprache.

_ Gleichzeitig werden die herkömmlichen Medien ebenso wie die etablierten politischen Parteien von sinkender politischer und gesellschaftlicher Reichweite geplagt. Dies nimmt unterschiedliche Ausdrucksformen an. Auch der europaweite Aufstieg rechter Parteien gehört dazu. Es wird sich zeigen, ob politische und moralische Ausgrenzung allein diesen Trend stoppen kann.

 

Leistungsfähigkeit und Leistungswillen

Diese insgesamt kritische Sicht impliziert zwar nicht unbedingt einen «Untergang Deutschlands». Aber ein relatives Zurückfallen in der Welt und vielleicht auch in Europa prognostiziere ich als ziemlich sicher. Den individuellen Lebenschancen in Deutschland muss das nicht unbedingt einen Abbruch tun. Im Gegenteil: In einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die individuelle Tüchtigkeit und der mit ihr einhergehende Gestaltungsehrgeiz langfristig eher auf dem Rückzug sind, kann der Tüchtige und Ehrgeizige sehr gute Chancen zum materiellen Lebenserfolg und zur individuellen Selbstverwirklichung haben. Mit dem Rückgang des durchschnittlichen Niveaus von Leistungsfähigkeit und Leistungswillen steigen die Möglichkeiten der Tüchtigen und Ehrgeizigen zu einer guten relativen Positionierung. So wird es zum Beispiel der tüchtige Sportler in einem Deutschland, in dem sportliche Leistungsfähigkeit immer knapper wird, leichter haben, an die Spitze zu gelangen. (Damit ist allerdings noch kein Weltniveau erreicht, wie sich zuletzt im Fussball schmerzlich zeigte.)

Ähnlich gilt dies für alle Bereiche beruflicher, persönlicher und materieller Selbstverwirklichung, in denen die individuelle Leistung eine Rolle spielt. Eine Voraussetzung sind allerdings regulatorische Rahmenbedingungen und ein gesellschaftliches Klima in Deutschland, das dem Einzelnen bei seinem individuellen Streben und bei der Verfolgung ehrgeiziger persönlicher Ziele keine übermässigen Hemmnisse in den Weg legt. Sollte die gesellschaftliche Regulierung in Deutschland den Einzelnen im Übermass behindern und zum Mittelmass quasi zwingen, so bliebe den Tüchtigen immer noch die Auswanderung. Ein schwächer und mittelmässiger werdendes Deutschland muss deshalb im eigenen Interesse umso intensiver dafür Sorge tragen, dass es für die Tüchtigen und Ehrgeizigen ein attraktiver Lebensraum bleibt.

In der obigen Aufzählung habe ich gegenwärtig wirksame Trends und Zustände beschreibend zusammengefasst. Es wäre nicht sachgerecht, sie einfach unkritisch in die Zukunft zu verlängern. Noch nachlässiger ist es allerdings, wenn man sie leugnet und verdrängt. Das ist aber das, was in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatte in Deutschland weitgehend geschieht. Die oben genannten Negativtrends hängen innerlich miteinander zusammen. Im Kern ergeben sie sich zu einem grossen Teil aus der demografischen Entwicklung in Deutschland, aus der sozioökonomischen Verteilung der Geburten und aus dem Umfang und der Struktur der Einwanderung nach Deutschland. Sie werden auch von jeweils herrschenden gesellschaftlichen Einstellungen geprägt. Letztere haben – unabhängig davon, wie positiv oder negativ man ihnen im Einzelnen gegenübersteht – häufig auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Das zeigt sich beispielsweise in der Demografie an der steigenden Zahl kinderloser Frauen oder bei der Klima- und Energiewende an den Gefahren für den Industriestandort Deutschland.

 

Die natürliche Schwerkraft der Dinge

Es ist ein Ziel meines neuen Buches, absehbaren Trends im Einzelnen nachzugehen, zu zeigen, wie sie innerlich miteinander zusammenhängen, was sie für Deutschland bedeuten und was man tun kann, um sie zu beeinflussen. Ausserdem skizziere ich differenziert nach Politikbereichen die zu erwartende Entwicklung, wenn die beschriebenen Trends weiterhin dominieren.

«Deutschland auf der schiefen Bahn»: Der Titel des Buches deutet an, dass ich die Perspektiven in Deutschland nicht optimistisch sehe. Die natürliche Schwerkraft der Dinge zerrt die Entwicklung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft schon seit längerer Zeit in eine ungünstige Richtung. Viele Gegenmittel, die es gäbe, entziehen sich dem gesellschaftlichen Einvernehmen, für andere Massnahmen ist es schlicht zu spät. Für individuelles Gegensteuern bleiben die Perspektiven allerdings viel besser als für kollektive Aktionen. Liberales, ja sogar libertäres Gedankengut hat vor diesem Hintergrund eine grosse Zukunft und wird langfristig an Attraktivität gewinnen. Ohne Anstrengung und Entsagung geht es allerdings nicht. Hier gilt die Einsicht von Wilhelm Busch:

So ist’s in alter Zeit gewesen,
So ist es, fürcht’ ich, auch noch heut.
Wer nicht besonders auserlesen,
Dem macht die Tugend Schwierigkeit.
Aufsteigend musst du dich bemühen,
Doch ohne Mühe sinkest du.
Der liebe Gott muss immer ziehen,
Dem Teufel fällt’s von selber zu.

 

Weltwoche-Kolumnist Thilo Sarrazin ist Finanzsenator Berlins a. D., ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und Bestseller-Autor.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der Einleitung seines eben erschienenen Buchs «Deutschland auf der schiefen Bahn» (Langen Müller, 328 S., Fr. 39.90).

Die 3 Top-Kommentare zu "Deutschland schafft sich ab"
  • 🇨🇭🇨🇭Patriotin🇨🇭🇨🇭

    Sehr aufschlussreich,Herr Sarrazin Solide historische Kenntnisse werden bei aktiven Politikern zur Ausnahme! Unter den Mandatsträgern nimmt der Anteil jener zu, die weder einen beruflichen Abschluss noch ein abgeschlossenes akademisches Studium vorweisen können….. also jeder Trottel kann unser Land regieren! Deshalb diese Zustände in Europa! In der Privatindustrie wären die arbeitslos!

  • UKSchweizer

    Man sieht nun gut: Mit der falschen Regierung kann in einer Legislatur von 4 Jahren mehr kaputt gemacht werden als in mehreren wieder aufgebaut werden kann. Aber das Volk hat ja so gewählt, dass eine solche Regierung kam. Wird 2025 das Volk wirklich so drastisch anders wählen, dass es eine Umkehr geben wird ?

  • heidipeter4145

    Alles was Herr Sarrazin geschrieben hat ist empfehlenswert, das die grosse Masse das lesen sollte. Die Medien müssten eine breite Diskussion anstossen und führende Politiker diese Bücher empfehlen.