Irgendwann verlieren all die Stimmen ihre Zeit. Versickern wie der Wellenrand im Sand. Man hört keine Worte mehr, nur noch das unaufhörliche Hintergrundrauschen der Welt. Man selbst wird vom Klang zur Sinfonie, da sind all die Partituren des eigenen Daseins, die sich komponieren. Die Füsse berühren den Sand, die Sonne drängt in die Haut, die Seele greift nach diesem bisschen momenthafter Ewigkeit.
Das ist das Gefühl des Sommers, wenn er seine fiebrige Hitze verliert und seine Hektik auch, wenn seine Vergänglichkeit weiter weg scheint als der Lapislazuli des Himmels. Wenn wir mittendrin sind in der Sommerzeit, leicht und gefangen im Gefühl, dass das Leben auch ein Selbstläufer sein kann. Keine andere Jahreszeit kann das, diese von Leichtigkeit durchflutete Einfachheit.
Das ist die Poesie des Sommers, die einen überfallen kann, am Meer, zu Hause, irgendwo; jene Melodie, die alle Misstöne ausblendet, fast alle, zumindest für einen Atemzug. Wenn da keine Mücken sind, keine Hitze, aus der es kein Entkommen gibt, wenn das Dasein tagsüber und nachts auch anfängt festzukleben wie frisch aufgetragener Leim, wenn man sich sehnt nach einem Winterhauch, der in einem kleinen Windstoss vorüberzieht und den Sommer abkühlt, weil seine Hitze sein kann wie ein goldener Käfig.
Der zauberhafte Sommermorgen
Dennoch ist da in all den Jahreszeiten keine angenehmere Gefangenschaft als jene in den Fängen des Sommers. So einfach scheint er, ein Versprechen auf Losgelöstheit ist er, wann, wenn nicht in dieser Zeit, ist die Illusion, dass man nicht nur gehen kann, sondern auch ein wenig fliegen, so gegenwärtig.
Am liebsten verbringe ich die Sommer in Südeuropa am Mittelmeer. Berge sind auch gut, vor allem dann, wenn im Süden die Hitze verrücktspielt. Dann sitzt man da im Schatten an einem der Tische im «Paralos», einer Beach-Bar am Ende des Peloponnes, am hinteren Rand des Strandes, befreit, aber nicht abgetrennt vom üblichen Sommertrubel, man schwitzt, mehr ausziehen geht nicht mehr. Und dann denke ich, dass die Alpen bald das neue Mittelmeer werden und das Mittelmeer das neue Afrika und Afrika verbrannte Erde.
Der Sommermorgen ist das Zauberhafte, wenn die Kühle der Nacht noch in ihm steckt, das Licht zaghaft sich sammelt, wenn sein geräuschvolles Leben noch vor sich hindämmert. Wenn die Liegen am Strand noch leer sind, die Kellner rauchen und Espresso trinken, wenn das Meer noch wenigen gehört und es einen in den Tag fliessen lässt, wenn alles noch Versprechen ist und Verheissung auch.
Wenn alles, was sonst wichtig ist, seine Bedeutung verliert, wenn das Dasein Arbeit an einem selbst ist, ein ziselierendes Etwas, wenn das Sein eine Geschichte ist, die man sich nicht erzählen muss, sondern die fliesst einfach so. Wie Sätze in einem Buch, die man zum ersten Mal liest und trotzdem schon hundert Mal verstanden hat.
Ich erinnere mich gerade an einen jungen Griechen, Stavros, er war Kellner, später war er zusammen mit der Frau des Tavernenbesitzers, noch später war er weg, geflohen von jenem Gebilde, das er im Grössenwahn geschaffen hatte und das jetzt der Bank gehört. Als wir jung waren und ich dachte, ich schaffe es vom Tipper zum Schriftsteller, als ich dachte, das Leben findet sich in der Literatur, sprach ich ihn auf Bücher an, fragte, was er lese.
Er lese nur im Winter, nie im Sommer, im Sommer sei sein Kopf nicht frei, da müsse er Geld verdienen. Ich habe diesen Satz nie vergessen; dass man, ja, frei sein muss für Worte, Sätze und Geschichten, weil sie sonst verschüttgehen in all den spulenden und nimmermüden Narrativen des Alltags.
Frei sein für Worte
Dann sitze ich in diesem «Paralos», es ist endloser Morgen für einen Moment und ewiger Sommer, und die Zeit geht weder vorwärts, noch rückwärts, da ist eine Zigarette und ein Freddo Espresso, die Sonne, die durch die Blätter der Bäume ihr Licht wirft. Da bin ich, fraglos irgendwie, erlöst von Fragen und Zweifeln, und ich überlege mir, ob ich lesen soll.
Irgendetwas über die Zeit, Proust, Nadolny, Hawking, Heidegger, Vonnegut, irgendwas über die Beständigkeit der Vergänglichkeit, die Schönheit des Werdens und das Sterben in Schönheit. Aber ich mag nicht.
Der Sommer ist die Zeit, in der man seine eigene Zeit schreibt. All die Gedanken des Frühlings sind in ihr, die Bedenken des Herbstes und das Verlorensein im Winter. Der Sommer ist Text, die anderen Jahreszeiten Kommentar, hätte ich fast gesagt, aber das eigene Leben schreibt ununterbrochen Geschichten. Die schönsten jedoch meist im Sommer, wenn alles versickert wie Wellenränder im Sand. Aber immer wieder kommt eine neue Welle.
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