Karl May hat es wirklich nicht leicht. Er ist 1912 gestorben, und dass er mehr als hundert Jahre nach seinem Tod noch einmal zum Gegenstand einer kulturpolitisch hochbrisanten öffentlichen Kontroverse werden würde, liess sich nun wirklich nicht erwarten. Anfeindungen aller Art hatte er zu Lebzeiten genug auszufechten, und auch sein literarisches Nachleben ist vergiftet von periodisch wiederkehrenden Zänkereien. Dass nun ein Kinderbuchverlag ungefragt öffentlich erklärte, er werde bereits gedruckte Begleitbücher zu einem auf Karl-May-Motiven basierenden Film aus Gründen gesteigerter interkultureller Sensibilität nicht veröffentlichen, ist nur eine weitere Episode in der unendlichen Geschichte der Karl-May-Kontroversen.

Mythenbildende Kraft

Ob es sich bei der nun hoffentlich nie erscheinenden «Winnetou»-Adaption des Verlags um einen Fall illegitimer kultureller Aneignung handelt, mögen die unter sich ausmachen, die eine solche Diskussion für wichtig halten. Viel interessanter ist hingegen die kommerzielle Aneignung Karl Mays. Denn es ist doch bemerkenswert, dass ein deutscher Verlag in den 2020er Jahren sich ein Geschäft versprochen hatte von der Wiederbelebung literarischer Figuren, die vor 130 Jahren von einem umstrittenen Erfolgsautor geschaffen wurden.

Abwegig ist diese Hoffnung keineswegs. Immerhin wird die Gesamtauflage von Karl Mays Werken auf 200 Millionen geschätzt, davon die Hälfte in Übersetzungen. Auch wenn Karl May seit längerem keine besondere Beachtung mehr beim breiten Publikum gefunden hat, so sind die von ihm geschaffenen Mythen doch in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen eingebrannt und können offensichtlich jederzeit wieder neu belebt werden.

Karl Mays Erzählungen beziehen ihre mythenbildende Kraft zunächst aus den robusten Gesetzen der Trivialliteratur. Dazu gehören in erster Linie klare Grenzziehungen: Gut und Böse, Freund und Feind, Schuld und Sühne, Zivilisation und Wildnis. Das Handlungsschema ist nicht minder schlicht. Die Romane bestehen aus einer leicht vorhersehbaren und doch nie ermüdenden Abfolge von Gefahr und Rettung, Flucht und Verfolgung, Gefangennahme und Befreiung, Verbrechen und Strafe, Geheimnis und Auflösung. Das sind die bewährten Insignien des Abenteuerromans, aber Karl Mays Kunst besteht darin, das längst Vertraute in hundertfacher Variation neu zu erzählen.

Diese Handlungsabläufe werden eingefügt in den Rahmen eines festumrissenen Weltbildes, das seine Wurzeln in der europäischen Aufklärung hat. Es vertraut blind auf die Beherrschbarkeit der Welt und wird überzuckert vom Humanismus allumarmender christlicher Nächstenliebe. Das alles aber kann nur funktionieren, wenn dem Leser die Möglichkeit zur Identifikation mit den Romanhelden geboten wird. Karl May hat, die aktuellen Winnetou-Diskussionen zeigen es erneut, mit Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, Hadschi Halef Omar und Winnetou archetypische Figuren von überhistorischer Gültigkeit geschaffen, stolz und treu, hilfreich und edel, furchtlos und unbesiegbar und vor allem eins: deutsch – selbst wenn sie als Araber oder Apachen geboren wurden.

Karl May hat viele Weltregionen mit seinen Figuren besiedelt: China, Polynesien, Südamerika, Afrika, Deutschland und die europäischen Länder. Aber im Zentrum stehen die beiden grossen Handlungsräume Wilder Westen und Orient – wobei die als «Orient-Romane» bezeichneten Texte nur das Osmanische Reich in seinen wechselnden historischen Grenzen, also den Balkan, die Türkei, Persien und Nordafrika, umfassen. Diese Schwerpunktsetzung ist nicht zufällig. Mit ihr findet Karl May den Anschluss an den Gegenwartshorizont seines Publikums. Die Amerika-Romane beziehen ihre Aktualität aus der deutschen Auswanderungsbewegung im 19. Jahrhundert, das zerfallende Osmanische Reich wiederum gehörte zur deutschen Tagespolitik seit dem Berliner Kongress von 1878; darüber konnte man täglich in der Zeitung lesen.

Ablehnung der Sklaverei

Karl Mays «Orient-Romane» bieten ein detailliertes Wissen über Land und Leute, Geografie und Geschichte der beschriebenen Länder, das für Generationen deutscher Leser zur ersten und meist einzigen Quelle der Information über die Türkei, die arabischen Länder und den Islam wurde. Ähnlich verhält es sich mit seinen noch berühmter gewordenen Amerika-Romanen, allen voran dem «Schatz im Silbersee» und «Winnetou». Man mag Karl May die Stereotypisierung fremder Völker vorwerfen und hat damit sicherlich nicht unrecht – so funktioniert ­Literatur nun einmal. Wenn man ihm aber vorwirft, er habe die reale Situation der Indianer «ausgeblendet», so ist das falsch.

Das ist nicht sein Thema, aber zum Leidwesen spannungsbedürftiger jugendlicher Leser gibt es in den Amerika-Romanen reichlich Reflexionen, in denen das Schicksal der Indianer benannt und beklagt wird. Und in seinen Afrika-Romanen schreibt er mehr über die seinerzeitige Wirklichkeit, als man heute wissen will. In der «Sklavenkarawane», die um 1890 als Zeitschriftenserie und später als Buch erschien, wird ebenso wie in der Trilogie «Im Lande des Mahdi» sehr detailreich die brutale Praxis der Sklavenjagd beschrieben.

Dabei war Karl May den realen Sachverhalten näher als manche seriöse wissenschaftliche Darstellung der Gegenwart. Die Sklavenjäger und Sklavenhändler sind muslimische Araber im Bündnis mit afrikanischen Stämmen, die sich untereinander bekriegen und versklaven. Man wird in der westlichen Literatur dieser Jahre, auf dem Höhepunkt des Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus, lange suchen müssen, um Texte zu finden, die in dieser Eindeutigkeit die Sklaverei ablehnen und der Gleichwertigkeit aller Rassen des Menschengeschlechts das Wort reden.

 

Geschichten für katholische Zeitschriften

Die Verbindung von handfester Exotik mit den Allmachtsfantasien des reisenden Individuums Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand macht das Erfolgsgeheimnis Karl Mays aus. Individualpsychologisch lassen sich die Fantasien leicht erklären. Karl May entstammt den ärmlichsten Verhältnissen, die sich im Deutschland dieser Jahrzehnte finden lassen. Er wurde 1842 im erzgebirgischen Ernstthal als fünftes von vierzehn Kindern einer Weberfamilie geboren. Das Leben in dieser Region war bestimmt von Hunger, Krankheit, Alkoholismus und Kriminalität. In seinen frühen, pseudonym erschienenen Dorfgeschichten und seiner späten Autobiografie gibt Karl May tiefe Einblicke in dieses Milieu.

Der Versuch zum bescheidenen sozialen Aufstieg durch den Besuch eines Lehrerseminars scheiterte. Er wurde aus dem Seminar entlassen wegen des Diebstahls von sechs Kerzen. Auf dem Gnadenweg durfte er weiterstudieren, machte sein Examen und fand nach einigen Irrwegen eine Stelle in der Fabrikschule in Altchemnitz.

Das währte nicht lange. Im Februar 1862 wird er zu einer ersten, sechswöchigen Gefängnisstrafe wegen Diebstahls verurteilt. Mit der Lehrerlaufbahn ist es endgültig vorbei. Es folgte eine eindrucksvolle Karriere als Kleinkrimineller, Hochstapler, Betrüger, Dieb, Gefängnisflüchtling. In der Summe bringt er es auf acht Jahre Arbeitshaus und Zuchthaus.

Unfassbar ist die atemlose schriftstellerische Produktivität des Autors Karl May, die nach der Entlassung aus dem Zuchthaus Waldheim im Jahre 1874 einsetzte. Es beginnt mit seinen erzgebirgischen Dorfgeschichten. Es folgen Abenteuergeschichten für Zeitschriften, allen voran für den katholischen Hausschatz und den Guten Kameraden. Im Dresdner Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer, einem gelernten Zimmermann, fand er schliesslich einen kongenialen Partner, der seinerseits das Potenzial seines Autors erkannte und ihn als Redaktor anstellte. Unter blumigen Pseudonymen schrieb Karl May fünf grosse Romane im Umfang von je etwa 2500 grossformatigen Seiten, die Woche für Woche in Fortsetzungen erschienen und von Kolporteuren unters Volk gebracht wurden. Die eigentlich wirkungsmächtigen Konturen erhielten Autor wie Werk aber erst später durch die seit 1892 erscheinenden, legendär gewordenen 33 «grünen Bände» der Freiburger Fehsenfeld-Ausgabe.

Begnadeter Hochstapler

Natürlich sind es Fluchtwelten, die sich der ehemalige Zuchthäusler zusammenschreibt, aber es sind realitätshaltige Fluchtwelten. Karl May hat die Gefängnisbibliothek während seiner ersten Haftzeit ausgiebig genutzt und sich zu einem genialen Kompilator, oft auch Plagiator, herangebildet. Sein umfassendes Wissen über Geografie, Ethnografie, Geschichte, seine Sprachkenntnisse – im Schreiben an einen Leser von 1894 führt er 35 Sprachen und Dialekte auf, die er zu beherrschen behauptet – sind aus Büchern entnommen und so genial in Bücher wieder eingearbeitet, dass Generationen von Lesern das als selbsterfahrene Wirklichkeit des Autors wahrgenommen und ihrerseits ihrem Wissensschatz einverleibt haben.

Karl May wurde berühmt und wohlhabend. 1896 ist er Besitzer der herrschaftlichen Villa Shatterhand in Radebeul, die seit 1928 das KarlMay-Museum – in DDR-Zeiten zeitweilig in Indianer-Museum umbenannt – beherbergt. Aber trotz allem Erfolg: Karl May war und blieb selbst in den Zeiten grössten Ruhms ein begnadeter Hochstapler. Mehrmals stand er wegen Amtsanmassung vor Gericht; und noch als Erfolgsautor führte er jahrzehntelang unberechtigt einen Doktortitel. Vor allem hielt er aber lange und hartnäckig an der Behauptung fest, identisch zu sein mit seinen Romanhelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi.

Gutgehen konnte das auf Dauer nicht. Jeder Erfolg hat seine Neider. Als Karl May erstmals europäischen Boden verlassen und seine knapp eineinhalbjährige Orientreise angetreten hatte, wurden zu Hause die Messer geschliffen. Es begann mit einem Artikel in der Frankfurter Zeitung vom Juni 1899. Karl Mays Behauptungen, «alles selbst erlebt» zu haben, wurden in Zweifel gezogen und schnell widerlegt, das Pseudonym der alten Münchmeyer-Romane wurde gelüftet und deren pornografischer wie sadistischer Inhalt ihm vorgehalten. Vor allem aber kamen seine Zuchthausstrafen ans Licht. Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem gefeierten Erfolgsautor ein von den Medien Gejagter, verstrickt in endlose Prozesse. Hinzu kamen böse Auseinandersetzungen mit seiner Frau Emma, die 1903 mit der Scheidung nach über zwanzigjähriger Ehe noch nicht beendet waren.

Ob es nun diese Erfahrungen waren oder der Überdruss an seiner eigenen Produktion oder auch die realen Erfahrungen, die er bei seiner Orientreise machen musste – Karl May erfährt um die Jahrhundertwende eine radikale Wendung vom Abenteurer zum Friedenshelden: «Empor ins Reich der Edelmenschen», heisst jetzt sein Welterlösungsprogramm, das dem Spätwerk zugrundeliegt. Der Schriftsteller Arno Schmidt hat in den 1960er Jahren energisch dafür plädiert, hierin das eigentliche und literarisch bedeutsame Werk zu sehen. Manche sind ihm hierin gefolgt, viele aber nicht.

Meisterwerk deutscher Kitsch-Prosa

Nach Karl Mays Tod gründete die Witwe, Karl Mays zweite Frau Klara, eine Stiftung und übertrug alle Rechte dem neugegründeten Radebeuler Karl-May-Verlag. 1960, als Karl May in der DDR nicht besonders wohlgelitten war, zog der Verlag nach Bamberg um. Unter seiner Obhut wurden die Texte Karl Mays einem in der deutschen Literaturgeschichte beispiellosen Überarbeitungsprozess unterzogen. Sie wurden gekürzt, umgeschrieben, auseinandergerissen und neu zusammengestellt. Generationen von Karl-May-Lesern sind mit Karl-May-Texten sozialisiert worden, die nicht von Karl May stammen. Im Kern ging es immer darum, die Werke Karl Mays über die Jahrzehnte hinweg marktfähig zu halten, aber auch die politischen Anpassungen an den herrschenden Zeitgeist spielten eine Rolle.

Es war ein sehr zäher und für den Verlag schmerzhafter Prozess, bei dem verschiedene öffentliche Interventionen Arno Schmidts in den 1960er Jahren eine massgebliche Rolle gespielt haben, bis sich der Verlag dem Ansinnen öffnete, die Veröffentlichung philologisch haltbarer Texte zu ermöglichen. Der 2018 veröffentlichte Briefwechsel zwischen dem damaligen – nicht immer loyalen – Verlagsmitarbeiter Hans Wollschläger und Arno Schmidt gewährt einzigartige Einblicke in diesen finsteren Seitenwinkel des deutschen Literaturbetriebs.

Diese Verwerfungen führten zur Gründung der nun seit fünfzig Jahren bestehenden Karl-May-Gesellschaft, einer der mitgliederstärksten literarischen Gesellschaften in Deutschland. Durch sie wurde Karl May einer der besterforschten Autoren der deutschen Literaturgeschichte. Karl May ist allerdings selbst ebenfalls mit seinen Texten ziemlich rabiat umgesprungen. Als er mit Fehsenfeld einen Verleger für eine Gesamtausgabe gefunden hatte, passte er seine einzelnen Romane den äusseren Vorgaben ziemlich willkürlich an. Mal kürzte er, mal schrieb er Kapitel – so das berühmte Schlusskapitel des «Schut», ein Meisterwerk deutscher Kitsch-Prosa – hinzu, um die 600-Seiten-Vorgabe zu erfüllen, mal stellte er frühere Texte zu neuen zusammen, änderte Namen der Protagonisten, um sie der neuen Umgebung anzupassen – kurz: Von ihren Anfängen bis in die jüngste Gegenwart sind Karl Mays Romane fluide Gebilde.

Auch die politische Vereinnahmung Karl Mays gibt ein schillerndes Bild ab. Im Dritten Reich war Karl May keineswegs unumstritten. Während die einen, Adolf Hitler gehörte bekanntlich dazu, seine Romanhelden als Vorbilder für die deutsche Jugend empfahlen – «Mut, Entschlusskraft, Schneid, Abenteuerlust» –, bemäkelten die anderen seine pazifistischen und religiösen Grundtendenzen.

In der DDR war es kaum anders: Lange Jahrzehnte war Karl May nicht direkt verboten, aber politisch ungeliebt, bis Erich Honecker dann 1982 den Bedürfnissen der DDR-Leserschaft nachgab und den 140. Geburts- und den 70. Todestag zum Anlass nahm, den Autor von allen Imperialismus-Vorwürfen freizusprechen.

In der Bundesrepublik blieb der Absatz der Werke als Jugendliteratur, befördert durch die grünen Bände der Bamberger Ausgabe und dann auch einer Taschenbuchausgabe, bis in die 1970er Jahre ungebrochen. Das gilt gleicherweise für die siebzehn Karl-May-Filme, die in den 1960er Jahren enorme Publikumserfolge erzielten, auch wenn sie, zum Leidwesen der Puristen, mit den Handlungen der Romane nur wenig zu tun haben.

Herolde des Abenteuers

Karl May entwirft literarische Räume von schillernder Doppeldeutigkeit. Mit wenigen Handgriffen konnten die jeweiligen Bearbeitergenerationen seine Texte an die jeweilige neue historische und auch politische Lage anpassen. Ernst Bloch, der grosse Visionär enttäuschter Hoffnungen, hat Karl Mays Romanen ein in Befreiungsfantasien wurzelndes utopisches Potenzial zugeschrieben; unfreundliche Kritiker haben hingegen eher Machtfantasien am Werk gesehen.

Zutreffend ist beides. Unverkennbar ist Karl May Anhänger eines ordnungsstiftenden, autoritären Obrigkeitsstaates, als dessen Repräsentant er sich im Wilden Westen wie im verwilderten Osmanischen Reich aufspielt. Zugleich sind seine Protagonisten aber Herolde der Freiheit und des Abenteuers. Karl May befriedigt damit das doppelte Bedürfnis des deutschen Bürgertums nach Sicherheit einerseits und Freiheit andererseits.

Dass eine eigentlich so belanglose Episode wie die Cancel-Culture-Aktion eines Jugendbuchverlags das offensichtlich nur sanft schlummernde Karl-May-Potenzial wieder so abrupt wachrütteln konnte, hängt vielleicht abermals mit der gesellschaftlichen Konstellation in Deutschland zusammen. Eine Gesellschaft, die seit Jahren von immer neuen obrigkeitsstaatlichen Gängelungen erstickt wird, braucht Befreiungsfantasien. Und wenn sie schon so dumpf gemacht wurde, dass sie sie sich selbst nicht mehr schaffen kann, erinnert sie sich eben an die literarischen Fluchtwelten vergangener Tage.

 

Peter J. Brenner war Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität zu Köln. Mit Karl May befasst sich auch seine Regensburger Habilitationsschrift «Reisen in die Neue Welt» von 1986.