Nach den Corona-Jahren 2020 und 2021 war der Handel mit Motorrädern und auch Velos im Ausnahmezustand. Im Jahr 2021 wurde gemäss dem Statistikdienst Statista ein Allzeit-Höchststand von 56 000 Neuzulassungen registriert, 2022 waren es noch 48 800 Einträge. Auch im Handel mit Fahrrädern ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Aber was bedeutet diese Normalisierung für den Töffmarkt? Und wie entwickeln sich die Bedürfnisse der Motorradfahrer? Fährt man lieber Roller oder eine schwere Maschine? Und hat der Elektroantrieb in diesem Segment eine Zukunft?

Für eine umfassende Auslegeordnung fahren wir an einem Donnerstagmorgen nach Dietikon, wo Rainer Bächli und zuvor sein Vater seit über 55 Jahren Motorräder verkaufen. Als Harley-Spezialist wurde Bächli Anfang der 2000er Jahre europaweit bekannt: Seine «Customized Bikes» mit geraden Lenkern, dicken Reifen und aufwendigen Lackierungen setzten Trends.

«Ich hatte einfach Glück», sagt Bächli ganz ohne gespielte Bescheidenheit über seinen Aufstieg. Im Sommer 1997 kam er nach einem Lehr- und Wanderjahr in den Vereinigten Staaten von Amerika zurück in die Schweiz. In Los Angeles besuchte er eine Harley-Schule, «und als ich wieder da war, habe ich einfach die perfekte Welle erwischt. Mein Vater hatte mit dem Geschäft den Grundstein gelegt, und ich konnte lange oben bleiben, weil wir mit Umbauten und Motoren-Tuning über die Landesgrenzen hinaus den Nerv des Zeitgeists getroffen haben», beurteilt Rainer Bächli seinen Aufstieg.

 

Joggen in Lederschuhen

Heute verlange der Zeitgeist allerdings nach anderen Angeboten, im Motorcycle Heaven in Dietikon bietet Bächli mittlerweile die ziemlich unterschiedlich ausgeprägten Marken BMW und Triumph an und ist dazu nach wie vor Spezialist für die Maschinen von Harley-Davidson. Was vor 25 Jahren noch als Statussymbol mit gesellschaftlicher Breitenwirkung galt, hat heute eine deutlich kleinere Nachfrage. «Wenn jemand jetzt auf ein umgebautes Motorrad sitzt, höre ich bald einmal: ‹Das ist ja unbequem.›»

«Ich habe einfach die perfekte Welle erwischt und konnte lange oben bleiben.»

Und wenn jemand frage, ob er mit einem 300er-Hinterreifen auf eine Tour über Alpenpässe gehen könne, antwortet Bächli ehrlich: «Dass kann man, aber es gibt bessere Lösungen. Man kann auch mit rahmengenähten Lederschuhen joggen gehen, aber es gibt geeignetere Schuhe dafür», sagt der Töffspezialist.

Gesellschaftliche Trends, das zeigt sich am Motorradmarkt exemplarisch, schlagen sich direkt in veränderten Bedürfnissen und Ansprüchen nieder. «Heutige Töfffahrer wollen wirklich fahren und nicht mehr bloss eine Maschine zum Vorzeigen haben. Auch die Sicherheitsaspekte werden immer wichtiger. Eine Roadking-Tourer von Harley hat heute Doppelscheibenbremsen, ABS gibt es bei dieser Marke schon seit 2008. Damals war man noch ein Weichei, wenn man ein Antiblockiersystem hatte; heute warten die Kunden lieber auf das neue Modell mit den neuesten Sicherheitssystemen», beschreibt Bächli die veränderte Nachfrage.

Auch auf dem Markt für klassische Motorräder sei das durch die fallenden Preise zu beobachten. «Ohne ABS und mit eingeschränkter Fahrbarkeit ist ein älteres Motorrad heute nicht mehr besonders attraktiv. Niemand will auf den Strassen ein Verkehrshindernis sein», sagt Rainer Bächli. Und dass man mit einem schönen, gutmotorisierten Töff nicht mehr in den Vordergrund fahren möchte wie in den unbeschwerteren 2000er Jahren, als die Auto-Tuning-Sendung «Pimp my Ride» noch ein Riesenereignis auf MTV war und Klapphandys von Motorola der letzte Schrei der mobilen Kommunikation darstellten. Es gebe zwar immer noch eine Nachfrage nach optischer Individualität, speziellen Lackierungen und anderen Verschönerungsmassnahmen. «Viele Hersteller bieten solche Optionen mittlerweile schon ab Werk an – zum Beispiel Öhlins-Fahrwerke oder Brembo-Radialbremsen bei Harley-Tourenmaschinen. Funktionalität und Sicherheit sind heute viel wichtiger geworden», sagt Rainer Bächli.

Abgenommen habe hingegen das Bedürfnis nach akustischer Auffälligkeit. «Mittlerweile müssen wir laute Auspuffanlagen wieder zurückbauen; dass Motorräder leiser geworden sind, entspricht einfach der gesellschaftlichen Realität. Meine Kunden wollen von ihren Nachbarn nicht als Lärmidiot wahrgenommen werden.» Überhaupt, findet Rainer Bächli, habe sich der grundlegende Nutzwert der Motorräder stark verändert. «Die Leute sind heute gestresster und angespannter als noch vor zwanzig Jahren. Auf dem Motorrad den Kopf durchzulüften, ist für viele ein wichtiger Moment der Entspannung. Trotzdem hat sich die Freizeitgestaltung verändert. Man verbringt nicht mehr ganze Samstage in der Töffwerkstatt, sondern möchte einfach ein Fahrzeug, das funktioniert.»

 

Der grosse Unterschied

Der Markt für Motorräder, davon ist Rainer Bächli überzeugt, werde sich in Zukunft in zwei grundlegend unterschiedliche Bedürfnisgruppen teilen: «Es gibt einen Unterschied zwischen emotionalen und funktionalen Fahrern. Die einen suchen auf dem Töff nach einem Lebensgefühl, das sind die emotionalen Fahrer. Sie haben einen Sinn für Gemeinschaft und mögen den Community-Gedanken, der vor allem bei Harley-Besitzern immer noch ausgeprägt ist. Andere Hersteller versuchen, diese Gruppendynamik ebenfalls zu kreieren, aber sie entspricht vielleicht nicht mehr der verbreiteten Vorstellung von individueller Freizeitgestaltung.»

Eine andere Gruppe von Kunden, so sieht es Szenekenner Bächli, wolle nicht ein Lebensgefühl, sondern die neueste Software: «Wer den Töff eher als Pendler- statt als Freizeitfahrzeug sieht, achtet stark auf Funktionalität und Sicherheit. Auch Roller werden von diesen Kunden oft in Erwägung gezogen. Ich fahre selber gerne Roller, das ist praktisch und weckt in mir immer auch Feriengefühle, weil ich auf Ibiza beispielsweise gern einen Scooter für den Alltagsgebrauch miete.»

Für einen überzeugten Töfffahrer wäre ein Roller zu anderen Zeiten nicht annähernd in Frage gekommen. «Für mich ist Rollerfahren nett und praktisch, das Motorrad hat hingegen eine wichtige emotionale Komponente und ist natürlich viel dynamischer», nennt Rainer Bächli den grossen Unterschied. «Trotzdem stelle ich fest, dass ich mit zunehmendem Alter öfter mal das Einfache und Bequeme wähle.» Es ist der vielleicht entscheidende Trend auf dem Motorradmarkt, dem die Hersteller mit ausgeklügelten Assistenz- und Komfortsystemen noch so gern entsprechen.