Ich erwache neben ihr. Es ist ein Sommermorgen in Südfrankreich. Sie trägt ein Nachthemd aus Seide, die Fingernägel leuchten rot, wie gestern zum ersten Abendessen im Schlosshotel. Sie öffnet jetzt die Gardinen in unserer Suite, einer ehemaligen Kapelle. Dann ruft sie meinen Namen und ein mir wohlbekanntes «Zeit zum Aufstehen». Durch die Fenster leuchtet der Pool in der grünen Schlosslandschaft. Gleich werde ich ein paar Runden schwimmen und überlegen, ob das eine gute Idee war: Ferien mit meiner 85-jährigen Mutter.

 

Als die Härten gemeistert waren

«Make-up und Schönheit kennt kein Alter», sagte Brigitte Bardot in einem Interview. Ich beobachte jetzt meine Mutter durch den Türspalt im Badezimmer, sie trägt ihr Make-up auf, in ihren Haaren thronen bunte Lockenwickler. Sie macht sich schön für den ersten Morgen in ihrem geliebten Südfrankreich. Sie liebt dieses Land wegen des «Savoir-vivre». Aber auch wegen des hellblauen Lichts, das ihre Lieblingskünstler in Bildern festhielten, wegen des Gesangs der Zikaden und Schwalben, des Rauschens der alten Platanen, der warmen Luft und des parfümierten Dufts der Natur. Das ist ihr Luxus.

Schon ein halbes Leben lang geht es Mutter primär ums «Geniessen». Obwohl sie nicht auf einem «Seidenkissen» aufgewachsen sei, wie sie mich über die nächsten Tage immer wieder ermahnen wird. Sie sei durch harte Zeiten gegangen, als junge Hausfrau, als junge Mutter mit Stieftöchtern und später als Witwe mit «schwierigem Sohn». Damit bin ich gemeint. Doch als die Härten des Lebens gemeistert waren, ging es nur noch darum, das Leben als Kunst zu begreifen. Obwohl es da heikle Themenpunkte gibt, die ich in den nächsten Tagen vermeiden sollte: dass Geld nicht einfach alles kaufen könne, wie Intellekt zum Beispiel. Oder besser auf Französisch: Esprit. Doch Mutter beherrscht die Fähigkeit, auch im hohen Alter etwas Glamouröses spielerisch zur Schau zu stellen. In Frankreich sagt man einfach: se faire plaisir – sich etwas gönnen. So wohnt der Luxusvorstellung meiner Mutter stets etwas Emotionales und Irrationales inne.

«Luxus ist nicht das Gegenteil von Armut, mein Sohn, sondern das Gegenteil von Gewöhnlichkeit.»

Wir schlendern jetzt durch den Schlosspark des «Château des Alpilles» in der Nähe von Saint-Rémy-de-Provence, ein Fünfsterneparadies. Das Personal erkennt Mutter, grüsst freundlich, sie kommt schon seit Jahren hierher. Bleibende Erinnerungen kommen bei ihr auf, an glückliche Momente mit ihrem jetzt schwer erkrankten zweiten Ehemann, der nicht mehr dabei sein kann. Ich halte kurz ihre Hand und frage nach: «Alles okay?» Mutter nickt. Wir stehen in einer majestätischen Platanenallee, der Zufahrt zum Schloss, Frösche quaken im Schlossbiotop. Mutter liebt den authentischen Charme und die Ruhe dieses weitläufigen Landsitzes, ein Anwesen, das einem Ritter aus dem 13. Jahrhundert gehört haben soll. Dann geht’s los.

Wir befahren Wein- und Olivenölstrassen, Mutter steuert ihren exklusiven SUV immer noch selber. Wir besuchen Weinberge mit Namen wie Château Romanin. Irgendwann schlemmen wir uns durch die Mittagskarte eines Restaurants namens «La Table d’Estoublon», zelebrieren Hummer, Pulpo, Gänseleber, örtliches Gemüse, die art de vivre der Provence. Bald sind wir von einem duftenden Lavendelmeer umgeben, durchqueren violette Felder, Mutter trägt ein wertvolles weisses Sommerkleid mit bunten Zeichen, die von Niki de Saint Phalle entworfen sein könnten. Das Kleid flattert bezaubernd im Mistral-Wind, bis wir einmal mehr Weine am Rande der atemberaubenden Bergkette der Alpilles degustieren. Dazwischen schaut sich Mutter immer mal wieder im Rückspiegel an, schimpft über ihr dünnes Haar, den ungleichmässigen Hautton, streicht mit Make-up nach, macht sich wieder schön für die nächsten Stunden in ihrem geliebten Südfrankreich. Und irgendwann kann ich nicht anders, als verkopft festzustellen: Luxus sei doch hier in Frankreich stark mit dem Katholizismus verbunden. Schon an den Kirchen sei das sichtbar: «Hier wird zur Schau gestellt. Anders als deine protestantischen Vorfahren auf einem Bauernhof in Wülflingen, Mama, wo es nüchtern immer nur um die Funktion der Dinge gegangen ist. Im Übrigen manifestiert sich doch die coolste Art von Savoir-vivre im Understatement, oder?»

 

Provozieren in alter Flegelmanier

«Wie bitte? Understatement? Du hast nichts kapiert», sagt Mama. Zur Versöhnung besuchen wir das Kloster Saint-Paul-de-Mausole, wo sich Vincent van Gogh 1890 ein Jahr lang in der psychiatrischen Klinik aufhielt, um einen Grossteil seiner Werke zu malen. Was nichts mit Savoir-vivre zu tun habe, sondern mit reiner Verzweiflung, sage ich. Und bevor wir tiefer ins Thema eindringen, sind wir bereits wieder vom Zauber Südfrankreichs umgeben – und von heimatlichen Stimmen, die mit uns im duftenden Lavendelmeer stehen. Die Provence gilt als des Schweizers liebste Auswanderer-Region.

Als ich später im Pool in alter Flegelmanier mit Begriffsdefinitionen provoziere – «Ist nicht jede Art von Luxus eine Verschwendung, Mama?» –, kontert sie hellwach: «Luxus ist nicht das Gegenteil von Armut, mein Sohn, sondern das Gegenteil von Gewöhnlichkeit.» Es beschäftigt sie, dass ich ihren Lebensstil noch immer hinterfrage. Obwohl ich mich glücklich schätzen sollte, hier als ihr Gast dabei sein zu dürfen. Man könne aber ihr Coco-Chanel-Zitat heute auch anders lesen. Die Zukunft des Luxus liege nicht mehr wie bisher in der Vermehrung, sondern in der Verminderung. Längst ist von einer neuen Ära des Luxus die Rede: vom neo-luxury, der Trends wie sharing, digital detox oder Achtsamkeit als den neuen Luxus propagiert.

Und Mutter lächelt mich jetzt ein bisschen verzweifelt an, als ob sie ihren Sohn für ein bisschen verrückt hält. Und sie deutet es fast feierlich an, beim genüsslichen Nippen am Champagnerglas im Pool: Lebenskunst soll das Selbst zu einer uneinnehmbaren Festung im Sturm des Lebens verwandeln –und dabei auch als meditative Vorbereitung auf den Tod dienen. Und dabei drückt sie mir jetzt im Pool ganz versöhnlich meine Hand.

 

Tom Kummer ist Schriftsteller in Bern.