Rund hundert Politiker aus der ganzen Welt versammeln sich in der futuristischen Wolkenkratzersiedlung Pudong von Schanghai, um während dreier Tage über China und die Welt zu diskutieren. Die städtischen Behörden haben eingeladen. Ein schönes Rahmenprogramm liefert Einblicke in Facetten des chinesischen Wirtschaftswunders. In dieser Ausgabe beschreibe ich meine Eindrücke. Nachhaltig begeistert werde ich in die Schweiz zurückfliegen, beeindruckt durch die Dynamik, aber auch den schieren Aufstieg, den die Chinesen in den letzten knapp fünfzig Jahren hingelegt haben.

Die Regierung in Peking hat nach dem Tod des Vorsitzenden Mao, der sein Land bestenfalls halbrenoviert in sozialistischer Armut zurückliess, rund 800 Millionen ihrer Landsleute aus bitterster Armut in einen relativen Wohlstand katapultiert. Das ist die vermutlich grösste Verbesserung elementarer Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es sagt viel aus über die oberflächliche Verblendung unserer Zeit, dass diese Leistung kaum gewürdigt wird. China, der Weltmeister der Menschenrechte: Das ist keine Provokation, sondern eine sachliche Feststellung.

Schanghai ist Chinas bedeutendste Wirtschaftsmetropole. Die Quadratmeterpreise im Zentrum sind so hoch wie in St. Moritz, womöglich höher. Ich frage mich, wie es möglich ist, in einem sozialistischen Einparteienstaat ein solches Wachstum zu entfesseln. Die in den Gesprächsforen auftretenden Behördenvertreter und Politiker nennen es «Sozialismus nach chinesischer Art». Das ist eine interessante Beschreibung. Sie sagt nichts anderes, als dass der «Sozialismus», den man hier zu verwirklichen glaubt, etwas spezifisch Chinesisches ist und kein politisches Exportprodukt.

Damit unterscheiden sich die Chinesen schon in der Selbstbeschreibung von den forsch auftrumpfenden Mächten des Westens, die übergriffig klingen, wenn sie ihr Modell als «Demokratie» bezeichnen. Um dieses Wort ist ein regelrechter Kulturkampf entbrannt. Wobei sich der Westen die exklusiven Nutzungsrechte zuspricht: wir die Demokraten, dort die Autokraten. Wie demokratisch aber ist es, wenn etwa Präsident Macron nach zweimal verlorener Wahl die Sieger an der Bildung einer Regierung hindert? Nicht überall, wo im Westen Demokratie draufsteht, ist auch Demokratie drin.

Die Schweiz wäre mit ihrer Vielfalt, ihrer Kultur der Toleranz optimal aufgestellt für eine multipolare Welt.

Die eurozentrische Überheblichkeit ist ein Auslaufmodell in einer vielfältiger werdenden Welt. Die Vorstellung, «der Westen» habe den Auftrag, allen andern seine Vorstellungen eines richtigen Regierungssystems aufzunötigen, ist abwegig. Wir werden lernen müssen, das haben viele auch europäische Konferenzteilnehmer betont, mit Unterschieden zu leben. Anstatt die geringfügiger werdenden Differenzen zu unüberbrückbaren Gegensätzen aufzublasen, sollten wir uns darauf konzentrieren, was uns alle miteinander verbindet.

Man muss auch verstehen, woher Länder und Völker kommen. Es gibt nicht nur einen Weg zum Glück. Auch die politischen Systeme sind das Resultat unterschiedlicher historischer Erfahrungen. China oder Russland sind Staaten, die immer schon stärker von oben nach unten regiert wurden als etwa die Schweiz. Welches Regierungssystem für einen Staat das Beste ist, haben die Betreffenden selber herauszufinden. Es ist nicht unser Auftrag, der ganzen Welt unsere Vorstellungen aufzunötigen. Diese Kreuzzugsmentalität ist nichts für eine Schweiz.

Ohnehin ist die Vertiefung wirtschaftlicher Beziehungen die unter allen Möglichkeiten am wenigsten Schlechte, positiv auf andere Länder einzuwirken. Freihandel ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Dafür braucht es Regeln, die alle anerkennen, auf die sie sich verständigen. Leider ist die «regelbasierte» Ordnung auf dem Rückzug. Vor allem Staaten aus dem Westen machen sich für eine «wertebasierte» Ordnung stark. Mit ihren angeblich überlegenen «Werten» halten sie sich für berechtigt, die einst gemeinsamen Regeln auszuhebeln. Wir müssen zu einvernehmlich festgelegten Regeln zurück.

Die Schweiz wäre mit ihrer inneren Vielfalt, ihrer Kultur der Toleranz optimal aufgestellt für eine multipolare Welt. Ihre grösste Stärke aber ist die Neutralität, die sie zum Teil leider preisgegeben hat. Ich bin aber zuversichtlich, dass angesichts des relativen Aufstiegs nichtwestlicher Staaten die Schweiz keine andere Wahl haben wird, als zu ihrer bewährten Weltoffenheit, aussenpolitischen Zurückhaltung und Neutralität zurückzukehren. Für Kleinstaaten gilt mehr denn je die Formel: Mach Dir Freunde, keine Feinde.

China ist eine Chance, für die Schweiz, für die ganze Welt. Was ich in Schanghai gesehen habe, ist eindrücklich, inspirierend, aber auch ein bisschen beängstigend. Beängstigend deshalb, weil einem hier einfach bewusst wird, wie sehr die Chinesen punkto Tüchtigkeit, Fleiss und Leistungsbereitschaft die satt gewordenen alten Platzhirsche des Westens bereits jetzt schon überflügelt haben. Anstatt darauf mit Arroganz zu reagieren, mit Sanktionen und Boykotten, sollten wir die Herausforderung annehmen und uns auf unsere Qualitäten zurückbesinnen.

Für die Schweiz heisst das: zurück zur Neutralität. Was denn sonst? Freundschaft mit möglichst allen ist Pflicht, auch und gerade mit China. Mit dem leidgeprüften Riesenreich aus dem Osten verbindet uns viel. Die Schweiz gehörte zu den ersten Staaten im Westen, die zur Volksrepublik diplomatische Beziehungen aufnahmen. Im Gegenzug schloss Peking 2013 mit der Schweiz ein Freihandelsabkommen. Die uns von aussen auch schon aufgedrängten Sanktionen gegen China haben wir zum Glück nie übernommen. Der Druck könnte steigen. Um so dringlicher bleibt die Rückgewinnung unserer umfassenden Neutralität, die weltweit ein so hohes Ansehen geniesst. Nach wie vor.

Eine Annäherung an die Nato ist für die Schweiz kein Thema. Aber auch die EU, die sich zusehends militarisiert und kriegerisch gebärdet, wird für die Schweiz zum Risiko: Zusammenarbeit ja, aber keine engeren institutionellen Verquickungen. Meine Reise nach China hat mir plastisch vor Augen geführt, dass es ausserhalb unserer angestammten Biotope eine faszinierende Welt der unbegrenzten Möglichkeiten gibt. Das ist keine Absage an «den Westen», aber die Erinnerung daran, dass die Schweiz, will sie erfolgreich bleiben, zur Welt- und nicht zur West-Offenheit verpflichtet ist.