Es ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen: Meine Mutter, die Jazzsängerin Miriam Klein, singt bei der Hausarbeit Songs von Billie Holiday. Die Hausarbeit bestand in ihrem Fall darin, mehr oder weniger alleinerziehend (mein Vater, der Jazzer Oscar Klein, war oft auf Tour) einen Haushalt mit vier Kindern, zwei Grossmüttern, mehreren Katzen und Hunden, Vögeln, Hamstern und einem Kaninchen zu stemmen.

Gleichzeitig buchte sie ihre eigenen Konzerte und baute sich aus dem provinziellen Basel eine erfolgreiche internationale Karriere als Sängerin auf, in deren Rahmen sie mit Jazzikonen wie der Saxofonlegende Dexter Gordon, Miles-Davis-Drummer Kenny Clarke oder dem Stan-Getz-Bassisten George Mraz auf der Bühne und im Tonstudio stand.

«Aus dir machen wir einen Star»

Nun war es in den Siebzigern nicht selbstverständlich, dass eine Schweizer Sängerin mit der Crème de la Crème des amerikanischen Jazz auftrat. Die Jazzgrössen, mit denen Miriam zusammenarbeitete, waren auf dem Zenit ihres Ruhms, und Kooperationen mit inadäquaten Interpretinnen wären rufschädigend gewesen. Dexter Gordon ist auf Miriams erstem Soloalbum «Ladylike» zu hören. Gefragt, weshalb er mit einer unbekannten Schweizerin aufnimmt, genügten dem Hardbop-Pionier drei Wörter: «She can sing!»

Auch ihre Einspielung «By Myself» begeisterte die Fachpresse: «Wäre die Künstlerin nicht Schweizerin, sondern Amerikanerin, stünde dieses Album im Plattenschrank aller Vokaljazz-Fans», schrieb die Jazzzeitung. Unsere gemeinsame CD «My Marilyn» wurde von der FAZ als «musikalische Ewigkeitsapotheose» geadelt. Apotheose musste ich nachschlagen, es bedeutet «Vergöttlichung».

Geboren im Zeichen des Widders, als uneheliches Kind eines wohlhabenden jüdischen Geschäftsmanns aus Zürich, und aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen im Basler Gundeliquartier, entwickelt meine Mutter früh eine starke Persönlichkeit. Weil sie sich ihren zwei Halbschwestern gegenüber benachteiligt fühlt, reist sie im Sommer 1954 als Siebzehnjährige allein nach Israel, um ihren leiblichen Vater zur Rede zu stellen.

1957 engagiert der Theatergenius Werner Düggelin die zwanzigjährige Miriam für eine Nebenrolle in seinem Film «Taxichauffeur Bänz», an der Seite von Schaggi Streuli, Ruedi Walter und Stephanie Glaser. «Miriam, aus dir machen wir einen Filmstar», schwärmt «Dügg». Mit dabei ist der noch gänzlich unbekannte Maximilian Schell als Toni Schellenberg, den Miriam in einer Szene mit einem verführerischen «Salü Toni» begrüssen soll. Nach mehreren Takes, in denen Miriam wenig Enthusiasmus zeigt, fragt Düggelin, wo es hapere. Miriam antwortet achselzuckend: «Er gefällt mir halt nicht.»

Joints und andere Kräuter

«Sie singt, wie ihr zumute ist», titelte die deutsche Jazzbibel Jazzpodium. Miriam hat sich nie verbogen und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd, werden einige schnöden. Ja, ihr freier, rebellischer Geist, ihre Charakterstärke, die bedingungslose Weigerung, sich als Künstlerin und Mensch zu verstellen, haben mich geprägt.

Von meiner Mutter bekam ich die besten Ratschläge – und die schlechtesten. Der beste betraf Rauchen, Alkohol und Drogen. Ihren Kommentar: «Das hast du nicht nötig» habe ich zeitlebens beherzigt. Sie selbst qualmt bis heute im Akkord (auch Joints und andere Kräuter). Am Herd schwang sie in einer Hand den Kochlöffel, in der anderen ein gutgefülltes Glas Whisky.

Einer ihrer schlechteren Tipps war, umso mehr Geld auszugeben, je weniger man hatte.

Einer ihrer schlechteren Tipps war, umso mehr Geld auszugeben, je weniger man hatte. Für sie war klar: Durch entfesseltes Geldverprassen schafft man Platz im Portemonnaie, auf dass neues Geld den Weg dorthin finde. So häufte sie ein Betreibungs- und Verlustscheinregister von jenseits einer halben Million an. Dass sie trotz dieses Schuldenbergs in den Besitz von zwei Häusern am vornehmen Basler Spalenberg kam, hatte sie der liberalen Geschäftsführung des damaligen Chefs der Basler Zentralstelle für staatlichen Liegenschaftsverkehr (heute Immobilien Basel-Stadt), Werner Strösslin, zu verdanken. Leider war das Glück von kurzer Dauer. Eines Tages stand die Polizei mit einem Möbelwagen vor der Türe. Meine Mutter hatte es vorgezogen, Nerzmäntel und teure Autos zu kaufen, statt den Baurechtszins zu zahlen.

Täglich eine Braut in Weiss

Wer nun glaubt, dass bei uns Chaos herrschte, täuscht sich gewaltig. Punkto Exzentrik nimmt es meine Mutter mühelos mit den kapriziösesten Diven auf, doch die Familie und ihre vier Kinder waren ihr heilig. Nach jedem Konzert in der Schweiz fuhr sie nach Hause, machte uns das Zmorge und sorgte dafür, dass wir rechtzeitig in die Schule kamen. Auftritte, die eine längere Abwesenheit bedingt hätten, lehnte sie konsequent ab. Eine Gala mit Jazzkoryphäe Oscar Peterson liess sie sausen, weil am gleichen Tag der Kindergeburtstag meiner Schwester anstand.

Miriam hat in allen Lebensbereichen ihre eigenen Grössenordnungen, auch im Umgang mit Rauschmitteln und anderen Substanzen. Noch heute hat ihr Tablettenkonsum epische Ausmasse, was sie nicht wesentlich von Sängerinnen wie Edith Piaf, Billie Holiday, Janis Joplin oder Amy Winehouse unterscheidet. Ein Arzt bemerkte denn auch fassungslos: «Bei dieser Menge an Medikamenten würde ein Rennpferd während des gestreckten Galopps einschlafen.» Was eigentlich nur beweist, dass sich die Quantifizierung der Lebensenergie meiner Mutter jeglichen Kategorisierungen entzieht.

Pferdestärken reichen dafür nicht aus, hier greift eher der Vergleich mit einem Atomreaktor, sowohl bezüglich des Potenzials als auch des Risikos. Da wurde im «Kulm»-Hotel in Arosa schon mal der Eichenholzschreibtisch samt Hoteldirektor umgekippt oder einem Jazzklubbesitzer, der die vereinbarten Spesen nicht bezahlen wollte, das Gesicht zerkratzt. Einmal war ich Zeuge, als ein Basler Polizist bei ihrem neuen Porsche einen Bussenzettel unter den Scheibenwischer klemmen wollte. Wie eine Furie stürzte sich meine Mutter auf den verdatterten Schugger, riss ihm den Zettel aus der Hand und raste mit ihrem Boliden davon.

Auch ihrem Aberglauben verlieh sie eigene Dimensionen. Versicherungen schloss sie aus Prinzip keine ab, sie war überzeugt, dass man dadurch den Teufel an die Wand male. Ein von ihr verschuldeter Autounfall ging deshalb nicht nur gehörig ins Geld, es kam auch heraus, dass sie seit Jahren ohne Führerschein fuhr. Wie sie zu den Nummernschildern ihres amerikanischen Chevrolet-Kombis kam, weiss niemand.

Sie hatte sich eingeredet, das Glück sei ihr nur hold, wenn sie täglich eine Braut sah – und zwar in Person und ganz in Weiss. Während Jahren fuhr sie – im Taxi – durch die Schweiz, um an Hochzeiten von wildfremden Menschen einen Blick auf ihr Maskottchen zu erhaschen.Meistens feierte sie gleich mit. Das Einfamilienhaus im Gellertquartier, in dem wir unsere Kinder- und Jugendjahre verbrachten, mieteten wir nur, weil Miriam im Strassennamen ein gutes Omen sah: Sonnenweg.

Miriam war es auch, die die jüdischen Traditionen in der Familie bewahrte. Mein Vater hatte als Holocaust-Überlebender, dessen Grosseltern von den Nazis ermordet wurden, mit Religion nichts am Hut. Auf «Grüss Gott» antwortete er mit einem mürrischen «Grüss ihn selber». Meine Mutter bestand aber darauf, die wichtigen jüdischen Festtage zu feiern, wenngleich in ganz eigenen Versionen, mitunter in selbst verfasstem Hebräisch und mit von ihr erdachten Ritualen.

Kindheit in der Villa Kunterbunt

Bei aller Exzentrik: Miriam, heute 85, ist eine «jiddische Mamme», die uns Kinder (mittlerweile kamen vier Enkel und zwei Urenkel dazu) mit Liebe überschüttete, in unserer Villa Kunterbunt voller Lachen und Jazz, wo ich zwischen den Trompeten und Gitarren meines Vaters Oscar, Bergen von Schallplatten und einem Kaninchen aufwachsen durfte.

Es gibt da diesen jüdischen Witz: «Was ist der Unterschied zwischen einer jüdischen Mutter und einem Rottweiler? Der Rottweiler lässt irgendwann los.»

Happy Chanukka, Mami!