Vielleicht erinnern Sie sich an den Fall aus den USA, über den ich hier berichtet habe: Eine Influencerin hatte sich und einen Mann im Fitnessstudio gefilmt und behauptet, er habe sie angestarrt und sie sich extrem unwohl gefühlt. Das Video wurde millionenfach aufgerufen, die Entrüstung vieler Frauen nahm ihren Lauf. Nur waren es keine anzüglich starrenden Augen, eher verstohlene Blicke, und auch die konnte man ihm nicht anlasten; die in ultrakurzen Shorts und Sport-BH gekleidete Frau trainierte genau in seinem Blickfeld.

Jedenfalls tauchte etwas später, wie so oft bei solchen Fällen, eine Nachgeschichte auf. Die junge Dame betreibt einen Onlyfans-Account, auf dem sie in knappen Outfits ihre sexualisierte Weiblichkeit zur Schau stellt. Sie lässt sich dafür von Männern bezahlen.

Falls Sie Onlyfans nicht kennen: Auf dieser Plattform veröffentlichen Performer – mehr weibliche als männliche – pornografische Inhalte, vor allem solche, die auf Instagram nicht erlaubt sind. Nicht nur, aber zur Mehrheit. Daneben zeigen Fitnessexperten, Künstler, Stars und solche, die es sein möchten, verruchte oder nicht verruchte Fotos und Videos von sich. Viele Posts sehen so aus: Marlie erklärt im Wohnzimmer auf allen vieren, mit tiefem Décolleté und Hotpants, wie man «lernt, auf seinen Atem zu hören». Fina, hohe Wangenknochen, aufgemotzte Lippen, zeigt, wie man ein Kleid näht. «Wolf of the Wild» pflückt im Garten – in der Hocke – ihr Gemüse, gefilmt in Rückansicht. Ana Cheri sinniert im kurzen Schwarzen und mit übernatürlicher Oberweite vor einem Ferrari. Es ist wirklich schwer, das Wichtigste aus diesen informativen Videos herauszufiltern.

Die Überinszenierung dient dem Zweck, bewundert zu werden und Kohle zu machen.

In diese Welt aus subtiler Erotik und expliziter Pornografie verirrt man sich als Frau nicht, wenn man nur auf ein paar Likes aus ist. Die Überinszenierung dient dem Zweck der Bewunderung und des Kohlemachens. Hier können Fans ihre «Stars» bestaunen, indem sie ein monatliches Abo bezahlen. Onlyfans nimmt davon etwa 20 Prozent, 80 Prozent erhält der creator. Ab achtzehn ist man dabei. Gelobt wird die Plattform vor allem von den creators, weil sie ihnen die Kontrolle über ihre Arbeit ermöglicht und ein faires Entgelt bietet (womit sie die Erotikbranche komplett auf den Kopf stellte). Onlyfans verzeichnet ein enormes Wachstum, im Juli 2023 tummelten sich dort 326  Millionen User, auch die Anzahl der creators hat sich seit dem Vorjahr fast verdoppelt. Laut Medium.com verdient der durchschnittliche Performer monatlich etwa 165 Euro – Frauen sind erfolgreicher als Männer, Letztere sind viel zahlungsbereiter. Gemäss Blick verdient Lidja, Drittplatzierte irgendeiner «Bachelor»-Staffel, dort pro Monat 6000 Franken.

Onlyfans zerstöre die Moral der Frauen, wird kritisiert. Andere bemängeln, die Plattform habe «eine ganze Generation von Männern» ruiniert, die nun einfach eine subtilere Art der Zuhälterei pflegen.

Wirft es ein schlechtes Licht auf alle Beteiligten? Na ja, der Markt regelt. Den empfindlichen Moralexperten empfiehlt sich, da einfach nicht hinzusehen und ein wichtiges Buch zu lesen. Besonders der Feminismus sollte vor Freude Samba tanzen; jede schlechtbezahlte Bürofachkraft, jedes gescheiterte Model, jede Frau mit Vorzeigedrang kann mit einer kleinen Fangemeinde ihr Einkommen aufbessern, manchen reicht es gar zum Leben – dank den vielen Männern, die für Anleitungen zum Atmen oder zum Ernten zu bezahlen bereit sind.

Mit seiner sexualisierten Weiblichkeit Aufmerksamkeit erzeugen und Geld verdienen zu wollen, daran ist nichts falsch. Nur über den Vorwurf der Heuchelei sollte sich nicht wundern, wer auf den modernen Plattformen quasi ruft: «Schau mich an und bewundere mich!», dann aber die Aufmerksamkeit von Männern an anderer Stelle zum Problem erklärt.

Wirklich interessant fände ich allerdings die These des modernen Feminismus zu dem Phänomen, dass sich immer mehr Frauen, ganz freiwillig, für männliche Blicke bezahlen lassen – wo doch genau diese als sexistisch und übergriffig gelten. Oder hängt die Akzeptanz etwa vom Ort ab? Gucken für Likes wie bei Instagram oder für Geld wie bei Onlyfans erwünscht; gucken im realen Leben ohne Entgelt verboten? Wenn ich da als Frau schon nicht durchblicke, stelle man sich erst die Verwirrung bei den Männern vor.

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