Seit einiger Zeit lese ich nicht mehr während des Essens. Das sollte man eigentlich nicht ausdrücklich vermelden müssen, einverstanden. Es hat schliesslich mit Respekt zu tun gegenüber denen, die das Essen zubereiten, und gegenüber den Zutaten von mir aus, obwohl ich seit Jahren Vegetarier bin, das heisst, Pescetarier; ich esse also Fisch (aber keine Meeresfrüchte oder Krustentiere), und Fischen gegenüber kann ich schon Respekt aufbringen. Weiter geht es um Achtsamkeit, wie man im Yoga sowie in der Meditation lernt. Zudem sei’s gesünder, habe ich gelesen – während des Essens seinerzeit –, wenn man bewusst esse, sich nicht ablenken lasse dabei, lange kaue (einmal je Zahn, also zirka 28 Mal) et cetera.

Weshalb ich nun gelegentlich alleine im Restaurant sitze (meistens mittags). Und mich darin übe, bewusst zu essen beziehungsweise allfälliger Zerstreuung keinen Platz an meinem Tisch zu bieten. Zum Beispiel Gespräche von Mitessern um mich herum an mir vorbeiziehen zu lassen wie weit entfernte Vögel am Himmel. Das gelingt, natürlich, noch nicht immer. Und was ich dann mit anhöre, ist fast immer das Gleiche: Es geht um die Arbeit, genauer um Abläufe und Personalien in der Firma, weniger um das Kerngeschäft. Darum, dass, wenn die Erzählerin eine Frau ist, ihre Kollegin/ihr Kollege und/oder die Chefin/der Chef keine Ahnung hat, nichts kann respektive tut, ausser «toxisch» zu sein. Beziehungsweise dass, wenn der Erzähler ein Mann ist, er super ist (zumindest in der Selbstwahrnehmung), effizient, kompetent, abschluss- und lösungsorientiert, teamfähig dennoch, aber sträflich unterschätzt, leider, geradezu verkannt.

94 Prozent der Befragten schätzten ihre Fähigkeiten als überdurchschnittlich ein.

Tatsächlich, die Arbeitswelt ist oft ein unerfreulicher Ort. Voll von teilweise schwierigen Kollegen und Vorgesetzten, die man sich kaum aussuchen kann, ähnlich wie Familienmitglieder. Man verbringt viel Zeit dort, weshalb das Feld ein weites ist. Und weshalb ich, logisch, nicht der Erste bin, der erzählt, was er davon durch Dritte mitbekommt – schon Kurt Tucholsky (1890–1935) beschrieb, wie nach Feierabend im Café oder am heimischen Esstisch Betriebe von ihren Mitarbeitern auseinandergenommen und wieder zusammengebaut werden, überlegen natürlich, in ihren Augen. Oder Tom Wolfe (1930–2018) lässt eine männliche Romanfigur die Frau, die er begehrt, «zutexten», wie man heute sagt, ohne Ende erzählen, dass die Welt und besonders die Behörde, für die er arbeitet, besser wäre, wenn das Leben gerecht und er der Chef wäre (worauf die Gelangweilte zum Schluss kommt, es sei komisch, aber wohl ein Naturgesetz, dass sich Frauen stundenlang Geschichten über die kümmerlichen Karrieren von Männern anhören müssen, die was von ihnen wollen).

Als Besser- oder wenigstens Vielwisser von Berufs wegen frage ich mich: Wie kann es sein, dass die Mehrheit angeblich easy erkennt, was wo falsch läuft? Und in vielen Fällen ferner wüsste, wie man es richtig machen müsste. «Um fair zu sein, wir sind alle schlecht darin, unsere eigenen Fähigkeiten zutreffend einzuschätzen», schreibt Evan Osnos im New Yorker. Und gibt als Beleg das Ergebnis einer Untersuchung über amerikanische Professoren wieder, in der 94 Prozent der Befragten ihre Fähigkeiten als überdurchschnittlich einschätzen.

Ich komme zum Schluss, gescheiter wäre es, sich an eine Erkenntnis von Vilfredo Pareto, einem italienischen Ökonomen und Soziologen, zu halten: 20 Prozent der Erbsen in seinem Garten in der Westschweiz, wohin er Ende des 19. Jahrhunderts gezogen war, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte (wegen des Kochs), lieferten 80 Prozent des Gesamtertrags. Die sogenannte 80/20-Regel gilt für Erbsen wie für Menschen und ist, verkürzt, die Aussage des Pareto-Prinzips.

Allein ins Restaurant zu gehen, ohne dabei auf dem Smartphone zu lesen, stattdessen bloss achtsam und respektvoll zu essen, ist ziemlich einfach. Sich dabei nicht ablenken zu lassen von Leuten an den Nebentischen, die alle zu den 20 Prozent gehören, die 80 Prozent der Leistung erbringen würden (wenn man sie denn machen liesse) respektive die ihre Fähigkeiten zu 94 Prozent als überdurchschnittlich einschätzen, ist eine andere Geschichte.