Luhansk

Während einer Nacht im vergangenen Mai sass ich mit einer Gruppe russischer Soldaten um ein Lagerfeuer auf dem Land in der Nähe von Luhansk. Wir waren insgesamt rund zehn Personen. Das Fleisch briet auf dem Feuer, und wir tranken Wodka aus grossen Gläsern. Tagsüber hatte ich mich diesen Soldaten angeschlossen, um die Kämpfe rund um die Stadt Popasna zu verfolgen, etwa dreissig Kilometer nördlich von unserem Lager. Wir waren in schnellem Tempo auf Militärfahrzeugen unterwegs, als eine Rakete 200 Meter hinter uns auf der Strasse einschlug, genau dort, wo wir gerade vorbeigefahren waren.

Vertrauen in Putin

«Lass uns feiern, dass wir überlebt haben», sagte mir ein Soldat am Ende des Tages. Und so gingen wir zusammen essen und trinken. Nachdem wir mehrere Gläser getrunken hatten, sprach mich ein vierzigjähriger Soldat aus Wladiwostok namens Sergei an. «Manchmal frage ich mich, warum ich das alles mache. Wieso bin ich hier, wofür kämpfe ich? Wegen dieses Krieges hasst uns die halbe Welt, viele Ukrainer hassen uns auch. Warum machen wir das? Mein Grossvater wusste, wofür er während des Zweiten Weltkriegs kämpfte. Mein Vater auch. Ich weiss hingegen nicht, wofür ich hier bin.» Er hielt für einen Moment inne, dann fuhr er fort. «Trotzdem bin ich Russe, und selbst wenn ich mit diesem Krieg nicht einverstanden bin, stehe ich dennoch auf der Seite meines Vaterlandes.»

Viel wurde in den letzten Monaten über die Motivation der russischen Soldaten im Ukraine-Krieg geschrieben. Nachdem ich mehr als ein halbes Jahr an der Front im Donbass verbracht habe, bin ich zu folgender Überzeugung gekommen: Die meisten russischen Soldaten und Zivilisten denken wie Sergei. Kaum jemand mag den Krieg, viele unterstützen Russland trotzdem. Die meisten vertrauen Präsident Putin und seinen Entscheiden, auch wenn man sie nicht immer vollständig nachvollziehen kann.

Für viele handelt es sich um eine tragische, schmerzhafte Entscheidung, einen verheerenden inneren Konflikt. Es ist schwer, zu akzeptieren, gegen das ukrainische Volk zu kämpfen, das als Teil des russischen Volkes wahrgenommen wird. In russischen Schulen wird gelehrt, dass die Ukraine das Herz der russischen Zivilisation sei, das sich aufgrund der Tragödie des Zusammenbruchs der Sowjetunion von Russland abgelöst habe. Viele Russen haben Verwandte in der Ukraine, für sie handelt es sich um einen Bürgerkrieg. Der Kreml weiss das und betreibt deshalb eine massive Propagandakampagne, um seine Soldaten und Bürger zu motivieren. Die Propaganda basiert auf drei Säulen: Nostalgie für die Sowjetunion, Ablehnung der westlichen Gesellschaft und Wiedervereinigung aller russischsprachigen Bevölkerungen in einem einzigen Staat.

Kommunistische Symbole

Die Feindseligkeit gegenüber der ukrainischen Regierung und Armee bleibt in der Bevölkerung gross.

Ich bin am 18. Februar 2022 über Russland nach Donezk angekommen. Am nächsten Tag schloss der Kreml die Grenzen der selbsternannten prorussischen Volksrepubliken und hinderte andere Journalisten daran, den Donbass zu erreichen. Fast sieben Monate lang gehörte ich zu den ganz wenigen westlichen Reportern, die über den Krieg auf russischer Seite berichteten. Jeden Tag folgte ich der Moskauer Armee bei ihren Vorstössen und Rückzügen. Gleich nach meiner Ankunft sah ich in Donezk überall Plakate, auf denen zwei Soldaten abgebildet waren: einer von der Roten Armee, der im Zweiten Weltkrieg kämpfte; ein zweiter von heute, der in der «militärischen Spezialoperation» kämpft. Darüber stand geschrieben: «Wir haben die Nazis im Jahr 1943 besiegt, wir werden sie heute nochmals besiegen.»

Bezüge zur Sowjetzeit und zum Kampf gegen den Nationalsozialismus sind bei russischen Soldaten sehr präsent. Viele von ihnen haben kommunistische Symbole wie die rote Fahne oder Hammer und Sichel auf ihre Militäruniformen aufgenäht. Diese Symbolik ist unter den Kämpfern der separatistischen Milizen von Donezk und Luhansk besonders stark verbreitet, welche aber de facto ein Teil der russischen Streitkräfte sind. (Dies hat sich letzten Donnerstag grundsätzlich geändert, indem Putin diese Kämpfer jetzt als offiziellen Teil der russischen Verbände deklariert.) Zu Beginn des Krieges kämpften im Donbass fast nur solche Milizen, während die aus Moskau eintreffenden Truppen an anderen Fronten konzentriert waren.

Donbass-Russen gegen Kiew

Als ich den Vormarsch der Milizen nach Süden verfolgte, Dorf für Dorf, Graben für Graben, in Richtung Mariupol, stiess ich ständig auf rote Fahnen, die neben den russischen an den Kontrollpunkten und auf den in Schlamm und Schnee vorrückenden Panzern wehten. «Warum kämpfst du?», fragte ich eines Tages einen jungen Soldaten. «Um die Banderiten zu besiegen, die ukrainischen Nazis», antwortete er. Damit bezog er sich auf den ehemaligen Partisanenführer Stepan Bandera und das Asow-Regiment, das mit seiner rechtsextremen Symbolik und Gesinnung die russische Propaganda stark angeheizt hat. Aus diesem Grund stellt die Eroberung von Mariupol nicht nur militärisch, sondern auch propagandistisch einen strategischen Sieg Russlands dar, der ein manichäisches Narrativ legitimiert: Die guten russischen Erben des Kommunismus kämpfen gegen die ukrainischen Nazis, die die russische Kultur und Sprache aus der Ukraine vertreiben wollen.

Die Sowjetunion als Verteidigerin der russischen Kultur: Diese Rhetorik spricht einen grossen Teil der Soldaten und der Bevölkerung des Donbass an. Dies sollte jedoch nicht zum Eindruck verleiten, dass Ideologie die Hauptmotivation ist, die die Menschen des Donbass dazu treibt, gegen Kiew zu kämpfen. Viele hoffen einfach, dass die russische Invasion die Frontlinie weit weg von ihren Häusern entfernen wird, nachdem während acht Jahren auf sie geschossen worden war.

Wegen der heutigen militärischen Schwierigkeiten Russlands sind viele Menschen desillusioniert. In den letzten Wochen hat die Kiewer Armee wiederholt die Innenstadt von Donezk bombardiert und Dutzende Zivilisten getötet. Aus diesem Grund ist es sehr schwer vorstellbar, dass die Bevölkerung, die heute im russischen Teil des Donbass lebt, jemals die Souveränität von Kiew akzeptieren wird. Die Feindseligkeit gegenüber der ukrainischen Regierung und Armee bleibt sowohl unter Soldaten als auch in der Bevölkerung gross. «Es ist wie im ehemaligen Jugoslawien», sagte mir einmal eine alte Dame mit Kopftuch. «Vor 2014 identifizierte ich mich mit der Ukraine, dieses Land existiert heute aber nicht mehr.»

Unter den Separatisten gibt es viele Freiwillige, die in den letzten acht Jahren aus der ganzen Welt hierhergekommen sind. Die meisten kommen aus Russland oder aus Ländern des ehemaligen sowjetischen Imperiums, andere aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung der liberalen Demokratie und der westlichen Welt und ihrer Werte. Es ist kein Zufall, dass viele Freiwillige aus Westeuropa in ihrer Heimat in rechtsextremen oder linken Bewegungen aktiv waren. Für alle ist Amerika der grosse Feind. «Sie beschimpfen uns als Söldner, wir sind aber keine», sagte mir ein italienischer Soldat, der sich seit acht Jahren im Donbass befindet. «Im Jahr 2014 bekamen wir keinen Lohn, dann erhielten wir 300 Dollar monatlich von den separatistischen Behörden. Wir kämpfen in der Kälte, in Schützengräben, die in Schlamm und Schnee gegraben wurden. Dafür braucht man Motivation.»

Gegenwelt zum Westen

Unter den Freiwilligen trifft man zahlreiche Menschentypen. Viele haben alle emotionalen Verbindungen zu ihren Herkunftsländern gekappt. «Ich erkenne Frankreich nicht wieder, es ist nicht mehr das Land, mit dem ich früher vertraut war», sagte mir ein französischer Freiwilliger. Viele andere hatten Probleme mit dem Gesetz in ihren Heimatländern, einige aus politischen Gründen, andere wegen begangener Delikte. Wieder andere haben einfach eine Leidenschaft für den Krieg. Die grosse Mehrheit der Freiwilligen stammt jedoch aus dem postsowjetischen Raum, ist mit russischer Sprache und Kultur vertraut. Sie träumen davon, einen einzigen grossen geopolitischen Raum zu schaffen, der alle russischsprachigen Bevölkerungen umfasst. Und der sich gegen den Westen zur Wehr setzt: «Russki Mir», die Russische Welt.

Am 21. September 2022 verkündete Putin den Beginn einer neuen Kriegsphase. Es gehe nicht mehr um eine «militärische Spezialoperation», sondern um eine umfassendere Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, die auf ukrainischem Boden ausgetragen werde. Dafür erklärte er eine Teilmobilmachung junger Russen und forderte die Reservisten der Armee auf, die Waffen zu ergreifen. Entscheidend ist jetzt die Reaktion der russischen Gesellschaft. Wird die Mehrheit der Russen den Krieg weiter unterstützen, wenn mehr von ihren Kindern an die Front gerufen werden? Anders als in vielen westlichen Medien geschrieben, haben sich die meisten russischen Soldaten in der Ukraine motiviert gezeigt. Ob die jungen Russen, die jetzt in den Kampf geschickt werden, es auch sein werden, ist noch offen. Die Kampfmoral der neueinberufenen Soldaten ist eine der grössten Herausforderungen für Putin und sein Machtsystem.

Luca Steinmann, 33, ist ein schweizerisch-italienischer Journalist. Seit Februar verfolgt er den Ukraine-Krieg aus dem Donbass als fast einziger westlicher Reporter auf der Seite der Russen. Im September erhielt er den «Premiolino», einen der wichtigsten Journalistenpreise Italiens, für seine Berichterstattung aus dem Donbass.