Im Laufe der Evolution sind viele Säuger im Überlebenskampf schneller und schneller geworden, sei es für die Jagd oder die Flucht. So erreicht ein Gepard im Sprint 120 ​km/h, während die fliehende Gazelle immerhin 75 ​km/h schnell sein kann. Eine extrem gegensätzliche Strategie hat sich das Faultier gewählt. In Zeitlupe von wenigen Metern pro Minute hangelt es sich in Süd- und Mittelamerika in den Baumkronen des tropischen Urwalds auf der Nahrungssuche vielleicht vierzig Meter im Tag vorwärts.

Mit einer der längsten Entwicklungsgeschichte im Reich der Säugetiere wurde es im Laufe von dreissig Millionen Jahre langsamer und langsamer. Bis es für die auf Bewegung spezialisierten Augen von Raubkatzen und Greifvögeln praktisch unsichtbar wurde. Zudem trägt das Faultierfell einen grünen Schleier – Algen, die sich im feuchten Haarkleid wohlfühlen und eine zusätzliche Tarnung im gleichfarbigen Blätterwerk liefern.

Heute existieren zwei Faultiergattungen: das Dreifinger-Faultier und das Zweifinger-Faultier, entsprechend der Zahl der sichelförmigen Krallen an den Vordergliedern. Mit den bis zehn Zentimeter mächtigen Krallen halten sich die Tiere an den Bäumen fest. Da sie mit triefendem Fell tagelang an einem Ast mit dem Rücken nach unten hängen, verläuft der Scheitel des Felles nicht, wie bei Säugetieren üblich, entlang der Wirbelsäule, sondern auf der Mittellinie von Brust und Bauch. Der Haarstrich zeigt deshalb in Richtung Rücken, wodurch der Regen gut nach beiden Seiten am Körper abfliessen kann.

Die im Mittel um die fünf Kilogramm schweren Faultiere ernähren sich von Blättern und anderem Grünzeug; nur selten fressen sie auch Früchte oder Insekten. Dank einer langen und sehr flexiblen Halswirbelsäule können sie den Kopf um 270 ​Grad drehen, womit sie die Nahrung mit ihren stark verhornten Lippen ohne viel Körperbewegung pflücken. Und bis zu zwanzig Stunden am Tag hängen die Faultiere als schlafende Kugel im Geäst; bei einer maximalen Lebenserwartung von vierzig Jahren verpennen sie also mehr als dreissig Jahre. Dank einer solch gemächlichen Lebensweise haben die Faultiere für ihre Grösse den kleinsten Energieumsatz aller Säugetiere. Stoffwechsel und Verdauung sind derart langsam, dass sie nur einmal pro Woche den Darm entleeren müssen.

Um trotz dem sehr nährstoffarmen Grünzeug über die Runden zu kommen, gehen die Faultiere eine raffinierte Kooperation mit kleinen Schmetterlingen ein. In der scheinbar leblosen Fellkugel nisten Motten, die Stickstoff- und Phosphorverbindungen produzieren, was wiederum das Algenwachstum im Fell fördert. Bei der Fellpflege frisst das Faultier die Algen, eine wertvolle Ergänzung zur mageren Blätterkost.

 

Unsichere Zukunft

In Südamerika werden Faultiere nach wie vor als Nahrung oder illegale Haustiere erbeutet. Die traditionelle Jagd nutzt die Chance, wenn die Tiere für kurze Zeit vom Baum herunterklettern oder im Urwaldfluss schwimmen. Aus dem Geäst herunterschiessen geht nicht, weil ein todsicherer Greifreflex das Tier sich am Baum festkrallen lässt, bis sein Körper verwest ist. Axt und Motorsäge aber, zu denen der Mensch heute greift, lassen das Faultier samt seinem Lebensraum erbarmungslos auf den Waldboden donnern. Es sind solche Methoden und die vermehrten Brandrodungen, welche die Faultierpopulationen bedrohen.

Wegen der verborgenen Lebensweise auf den Urwaldbäumen kennt man den heutigen Bestand an Faultieren nicht. Im Rahmen eines internationalen Zuchtprogramms leben in europäischen Zoos um die 220 ​Faultiere. Seit 1967 hält auch der Zoo Zürich Zweifinger-Faultiere. Am 29. ​Dezember 1990 erblickte ein erstes Schweizer Faultier das Licht der Welt.

Herbert Cerutti ist Autor und Tierexperte.