Weisheit kommt zu uns, wenn sie nichts mehr nützen kann.

Gabriel García Márquez

Huê

Das Zitat entnehme ich einem grossartigen Buch des amerikanischen Journalisten Mark Bowden über eine folgenreiche Schlacht des Vietnamkriegs: «Huê 1968». Über 600 packend geschriebene Seiten erkundet der Reporter, was in Vietnam damals schieflief für die Amerikaner. Es ist eine Chronik der guten Absichten, der Missverständnisse, der Verblendungen, der namenlosen Gewalt und des Verbrechens, auch auf Seiten der vietnamesischen Kommunisten, die in der alten Kaiserstadt Huê Tausende von «Kollaborateuren» zum Teil bei lebendigem Leib begruben.

Am Schluss gewannen die zunächst komplett überrumpelten Amerikaner die Schlacht um die vietnamesische Kultur-, Bildungs- und Kaiserstätte. Doch es brauchte 24 Tage erbitterter Häuserkämpfe, ein tropisches Stalingrad, nach dem dann ein Grossteil Huês, vor allem die alte Zitadelle mit dem kaiserlichen Palast, dem Versailles Südostasiens, in Trümmern lag. Das Bonmot eines US-Offiziers traf es punktgenau: «Mussten wir die Stadt zerstören, um sie zu retten?» Selten ist der absurde Wahnsinn dieses Kriegs hellsichtiger in einen Fragesatz verdichtet worden.

Was lernen wir daraus? Die Amerikaner haben sich im Vietnamkrieg schrecklich verrannt. Sie haben ihren Gegner falsch eingeschätzt. Sie waren überheblich. Sie betrogen sich selber und haben sich von ihrem Idealismus in die Irre treiben lassen. Mein Eindruck ist, sie seien im Begriff, gegenüber Russland in der Ukraine ähnliche Verirrungen durchzumachen. Wurzel des Übels ist erneut die falsche Beurteilung des Gegners. Russlands Präsident Putin gilt im Westen längst als Ersatzteufel, als neuer Hitler. «Putler» nennen ihn irrig die Verbreiter des Irrtums.

Die Vermonsterung des Kremlherrschers zum hitlerschen Scheusal dient dem Westen mittlerweile als Entschuldigung dafür, dass er auf jede Diplomatie verzichtet. Man scheint sich erneut in einen Krieg verrennen zu wollen. Eben erst hat das US-Parlament ein Militärpaket von 61 Milliarden Dollar an die Ukraine abgesegnet. Unsere Medien sind nicht bereit, diese Waffenhilfe ernsthaft in Frage zu stellen. Sie haben sich dem Hitler-Narrativ bereits distanzlos ausgeliefert. Man verbreitet die Theorie, Putin würde, wenn wir ihn in der Ukraine nicht stoppen, mongolenmässig weitermarschieren gegen Europa.

Mich überzeugen diese durch nichts belegten Behauptungen wenig. Zunächst: Warum sollte es Putin tun? Eroberung von Paris? Rom? Lissabon? Wozu? Quadratkilometer hat er genug. Sein Ziel ist nicht Landgewinn, sondern Sicherheit. Die Russen machten immer klar: Wir wollen keine Nato-Ukraine, nicht noch mehr US-Atombasen in der Nähe unserer Grenze. Das ist der Kern des Konflikts. Aus einer Position der Stärke unterzeichnete Putin die Verträge von Minsk. Doch den Amerikanern war das nie gut genug. Sie rüsteten die Ukraine auf, zeuselten mit der Nato zum Krieg auf der Krim.

Wer ist in diesem Machtspiel eigentlich der «Aggressor»? Der Ukraine-Krieg wäre zu vermeiden gewesen. Man hätte sich einigen können nach dem Plan des verstorbenen Henry Kissinger: neutrale Ukraine ohne Nato-Beitritt, EU-Mitgliedschaft möglich, keine weiteren US-Raketenbasen in der Nähe von Russlands Grenze. Doch zu keinem Entgegenkommen waren die Amerikaner bereit. Sie pushten weiter, bis die Russen sich wehrten, ebenso wie es an ihrer Stelle die USA täten. Und auch taten. Als die Sowjets 1962 Atomraketen auf Kuba stationieren wollten, drohten sie dem Kreml mit Weltkrieg.

Manche Experten und Politiker im Westen argumentieren heute gefährlich nahe an der Vietnam-Linie der Vereinigten Staaten vor einem halben Jahrhundert: Sie schwelgen in masslosen Feindbildern, reden sich den Kriegsverlauf mit geschminkten Zahlen schön, scheinen berauscht von Visionen moralischer Unfehlbarkeit, sortieren wie im Kalten Krieg die Welt in Gut gegen Böse und graben sich immer tiefer ins Loch, in dem sie bereits stecken. Allerdings gibt es auch markante Unterschiede. Sie sollten vor allem jenen zu denken geben, die, wie einst die USA, den Endsieg nahen sehen.

Im Dschungelkrieg von Vietnam stieg auf Seiten des Gegners mit jeder amerikanischen Bombe, mit jedem amerikanischen Gefechtserfolg der Wille zum Widerstand. Den Armeen Ho Chi Minhs strömten die Freiwilligen zu, obschon ihnen die USA schwere Verluste zufügten. Umgekehrt ist es in der Ukraine: Präsident Selenskyj muss seine Soldaten mühsam zusammenkratzen, zwangsverpflichten. Offenbar lässt in der Ukraine die Kampfbereitschaft nach. Vielleicht auch deshalb, weil die Ukrainer diesen Krieg ganz anders, kritischer, realistischer sehen als die Kriegsenthusiasten im Westen.

Derweil rutscht die Nato immer tiefer hinein. Es droht die Direktkonfrontation von Nuklearmächten, brandgefährlich. Noch sind keine regulären Truppen dort, erst «Berater», aber so begann es für die Amerikaner auch in Südostasien. Etwas allerdings ist heute ganz anders als damals: Der Vietnamkrieg war ein Tiefpunkt der amerikanischen Politik, aber er war eine Sternstunde des amerikanischen Journalismus. Unerschrockene Reporter deckten die Lügen ihrer Politiker auf und trotzten der Propaganda der eigenen Behörden. Heute beten sie sie nach, ein krasser Rückschritt.

Ohne die mutigen Berichterstatter hätte die Öffentlichkeit nie oder erst viel später die Ausmasse des Vietnam-Debakels erfahren. Die Arbeit der Journalisten trug wesentlich zur Beendigung des sinnlosen, verbrecherischen Bombenterrors bei. Heute fehlt diese Hinterfragung weitgehend. Die Medien bilden eine Brandmauer, einen Schutzwall gegen Kritik. Fast am lautesten rufen heute die Journalisten nach mehr Waffen und Krieg. Verrückt. Den Preis zahlen vor allem die Ukrainer und die Russen. Kommt die Weisheit auch heute erst dann wieder zu uns, wenn sie nichts mehr nützt?