Eine Woge hat das Haus einer prächtigen Wellhornschnecke an den Strand gespült. Bald schon huscht ein Einsiedlerkrebs über den Sand. Seine sechs Laufbeine bewegen sich flink; die restlichen vier Beine und sein Körperhinterteil stecken in einem leeren Schneckenhaus. Das fremde Kalkgehäuse dient dem Krebs als Schutzpanzer und wird auch auf der Futtersuche mitgeschleppt. Mit den Antennen und den Scheren inspiziert der Krebs nun das angeschwemmte Haus. Als er erkennt, dass es leer ist und mehr Platz bietet als der bisherige Container am Hinterteil, verlässt er rasch die alte Stube und schlüpft ins grössere Haus.
Minuten später taucht ein weiterer Einsiedlerkrebs bei der nun verlassenen Altwohnung des ersten Krebses auf. Da sich auch ihm die Chance für ein Upgrade bietet, wechselt er ebenfalls die Wohnung. Im Laufe weniger Stunden kann so eine Kette von Mieterwechseln stattfinden – unserem Immobilienmarkt ähnlich, wo das Freiwerden eines attraktiven Objekts nicht selten eine ganze Zügelserie auslöst.
Trickreiche Anpassung
Die Suche nach einer grösseren Wohnung ist für den Einsiedlerkrebs lebensnotwendig. Denn als er vor Jahrmillionen auf die Taktik verfiel, den Panzer eines leeren Schneckenhauses als Schutz zu verwenden, musste er seinen Körper entsprechend anpassen. So verlor der Hinterleib das bei Krebsen übliche äussere Skelett und wurde zum weichen, schutzlosen Körperteil – die gekrümmte Form passend zu den Windungen der Schneckenschale. Die hinteren Beine wandelten sich zu Stummelgliedern, die, mit Warzen ausgerüstet, das Haus von innen her festhalten. Und eine der beiden Scheren an den Vorderfüssen vergrösserte sich stark, so dass der Krebs über eine gepanzerte Haustür verfügt, sobald er sich in seinem Schneckenhaus verkrochen hat.
Krebse können nur wachsen, indem sie alle paar Monate ihren Panzer aus Kalk und Chitin auflösen und sich eine Nummer grösser einkleiden. Beim Einsiedlerkrebs braucht die stattlicher werdende Figur auch das adäquate Heim, was das Tier im Lauf der Entwicklung immer wieder zur Wohnungssuche zwingt. Bei angespanntem Wohnungsmarkt kommt es zuweilen zu Keilereien, wenn sich zwei oder mehrere Krebse für dasselbe Objekt interessieren.
Wie heikel die Wohnungsnot werden kann, schildert der amerikanische Biologe Stephen Gould am Beispiel von Coenobita diogenes, einem an Land lebenden Einsiedlerkrebs auf den Bermudas. Gould war aufgefallen, dass die Einsiedlerkrebse in die eher mickrigen Gehäuse von Schwimmschnecken eingezwängt lebten, wobei ein Teil des Körpers heraushing. Dann fand er eines Tages doch noch einen Einsiedlerkrebs, der standesgemäss in der grossen Schale einer Wellhornschnecke wohnte.
Zum Aussterben verdammt
Bei genauerer Untersuchung stellte sich das Schneckengehäuse jedoch als 120 000 Jahre altes Fossil heraus, das aus einer Sanddüne ausgewaschen worden war. Solche Wellhornschnecken waren auf den Bermudas seit Urzeiten heimisch. Das schmackhafte Fleisch machte sie aber bei den Inselbewohnern und Seefahrern zur begehrten Speise, so dass die Schnecke dort vor etwa 200 Jahren ausgestorben ist.Damit fehlte dem Einsiedlerkrebs die traditionelle Unterkunft; die Gehäuse der kleinen Schwimmschnecken genügen höchstens noch den jungen Krebsen. Gould glaubt, dass die Einsiedlerkrebse auf den Bermudas noch einige Zeit dank der Wiederverwendung der fossilen Wellhornschneckenhäuser überleben werden. Über kurz oder lang werden sie aber wegen der Wohnungsnot aussterben.
Herbert Cerutti ist Autor und Tierexperte.
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