Die Ähnlichkeit zwischen dem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant (1724–1804) und Facebook-Eigentümer Mark Zuckerberg ist geradezu unheimlich. Zuerst schon ganz äusserlich: Man vergleiche die beiden von dünnem Blut durchflossenen, knipsäugigen Primus-Visagen mit dem Erbsenzähler-Kinn und dem Mündchen, das geeignet ist, vieles zu kosten und wenig zu schlucken, und setze Zuckerberg in der Photoshop-Fantasie mal eine gepuderte Perücke auf! Bemerkenswert, oder? Aber neben der mutmasslichen Reinkarnations-Verwandtschaft besonders interessant sind die geistigen Parallelen zwischen dem amerikanischen Tech-Milliardär und dem deutschesten aller Denker.

Eine Art Agent

Nehmen wir an, es gebe zwei Welten zur Auswahl: Die erste ist unerschöpflich reich und vielschichtig und dementsprechend für die Vernunft kaum zu fassen; die zweite hingegen ist ziemlich karg und platt, dafür aber klar und verständlich, weil nach sauberen Regeln komponiert. Die Frage mag gar spekulativ daherkommen, aber Kant muss sie sich gestellt haben – und er wählte Welt Nummer zwei.

Um uns das zu verdeutlichen, betrachten wir zunächst einen zentralen Baustein aus seiner Erkenntnistheorie: Die «Dinge an sich» seien für uns überhaupt nicht zugänglich, erklärte Kant. Die Dinge an sich? Das ist ihr Wesen, ihre innere Substanz, ihr Eigentliches, das, was sie für sich selber sind. Aber warum sollen diese nicht erkennbar sein?

Legen wir die Ehrfurchtsstarre vor dem Monument des Philosophen ab – es ist nämlich gar nicht so schwer zu verstehen. Es sind die Sinnesorgane, die dem Verstand die Erfahrungstatsachen zutragen. Fast wie in einem Kinderbuch, das dem jungen Leser die Körperfunktionen erklärt, können wir uns vorstellen, dass jedes Sinnesorgan als eine Art Spion oder Agent fungiert, wobei klare Aufgabentrennung besteht: Ein Agent beobachtet, ein anderer lauscht, einer konzentriert sich aufs Riechen, noch ein anderer tastet und erfühlt und so weiter.

Diese Agenten rapportieren einem gemeinsamen Zentrum: dem Verstand. Der Verstand hat nur indirekte Kenntnisse von den Dingen, quasi vom Hörensagen, als Bericht oder Beschreibung, Gerücht und Kolportage. Ihm kommt die Aufgabe zu, die gesammelten Daten zusammenzusetzen wie ein Puzzle aus Einzeleindrücken. Dabei wird ein mentales Replikat des Dings da draussen erzeugt. Nun kommt ausserdem (vom Verstand unterschieden!) noch die Vernunft ins Spiel. Die Vernunft fasst das mentale Replikat als Begriff – «Hammer», «Eiche», «Blondine» –, einen Begriff, der sich auf gleichartige Dinge übertragen lässt.

Genauso wenig also, wie der Teilchenphysiker weiss, wie seine Elementarteilchen «aussehen», «schmecken» oder «riechen», weil er sich ihnen ja nur über die Vermittlung von komplizierten Versuchsstellungen indirekt annähert, genauso wenig kennen wir (behauptet Kant) unsere Wirklichkeit; sie «erscheint» uns lediglich in denjenigen Formen, die der Verstand mit Hilfe seiner Agenten, der behelfsmässigen Sinnesorgane, hergeleitet hat, also indirekt. Die Dinge an sich, sofern sie überhaupt existieren, bleiben uns fremd. Vielleicht müssen wir vermuten, dass Immanuel Kant das Dasein selber so erlebt hat – also als riesige Ansammlung von Gehörtem, Gesehenem und Ertastetem, zu dem er schlicht keinen intuitiven, intimen Bezug herzustellen vermochte . . .

Liebe als echte Hinwendung zum Du, die beide umfasst? Dergleichen hat in Kants Philosophie keinen Platz.

Kants höchstes Lob

Wie dem auch sei, folgt man seinen Auslegungen, so ist es ja in der Tat eine grosse Aufgabe, all die Sinneseindrücke wieder auf eine nützliche Weise zusammenzusetzen. Nun bringen wir aber Raum und Zeit mit, um sie zu ordnen. Richtig: Wir, die Menschen, bringen sie mit, sie sind nämlich lediglich «reine Anschauungen», also intrapsychisch, hirnerzeugt.

Was immer wir uns vorstellen, findet ja nebeneinander oder nacheinander statt, also eben in den Kategorien Raum und Zeit, die wir als Bühne unserer Vorstellungen zwingend benötigen; wenn wir es aber sind, die sie benötigen, dann, so Kant, gehören sie zum Subjekt, zu uns – und nicht zur Welt. So ist insgesamt «der Verstand der Gesetzgeber der Natur, das heisst, er ist das Prinzip der Herstellung einheitlicher, gesetzmässiger Erscheinungszusammenhänge». Das ist unübertreffliches Kopfkino.

Aber was bleibt für die Welt selber da eigentlich objektiv noch übrig, nachdem ihr die Dinge an sich und Raum und Zeit weggenommen wurden? Äusserst wenig jedenfalls. Kein Wunder, dass der Königsberger Aufklärungsvertreter seine Heimatstadt nie verliess. Stattdessen eignete er sich theoretische Kenntnisse von Java, Amerika und London an, die so umfassend waren, dass seine Zuhörer glaubten, er sei tatsächlich da gewesen. Ein virtueller Weltreisender . . .

Die Vernunft selber fasst also den grössten Teil der Wirklichkeit in sich, und so definiert Kant den Menschen überhaupt als «Vernunftwesen». Das ist als höchstes Lob gemeint, was man daran erkennt, dass vernunftlose Wesen bei ihm «Sachen» heissen. Dabei gelte es, den Mitmenschen, also das Vernunftwesen vis-à-vis, nicht nur als Mittel, sondern auch als «Zweck an sich» zu betrachten.

Wie Kleinkinder vor dem Schaufenster

Was das bedeutet, machen wir uns am besten in der höchsten Form der menschlichen Verhältnisse deutlich, also in der Liebesbeziehung. Liebesbeziehung? Nach Kants Vorgabe ist hier bestenfalls ein Ehegefängnis denkbar – oder ein urbanes Sexleben. Den anderen als «Zweck an sich» zu nehmen, bedeutet ja nicht mehr, als dass er eigene Bedürfnisse hat, die im Interesse eines funktionierenden Miteinanders zu berücksichtigen sind, kurz: Auch der Sexpartner möchte befriedigt werden.

Vom Sinnlichen bleibt hier der Nervenreiz, vom Übersinnlichen gar nichts.

Liebe als echte Hinwendung zum Du, die beide umfasst? Dergleichen hat in Kants Philosophie keinen Platz. Seine bekannte Kennzeichnung der Ehe ist demzufolge auch gar nicht ironisch gemeint: «die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften». Auch hier theoretisiert er natürlich nur, er ist ja lebenslang unverheiratet geblieben.

Die Grundlage von Mark Zuckerbergs Unternehmen bildet das «soziale Netzwerk» Facebook, das er von den Brüdern Winklevoss gestohlen hat. Das war aber nur eine Fingerübung. Jetzt will er uns allen die Realität stehlen.

Mit Facebook ermöglichte er es dem User, sich selber auf das Image zu reduzieren, das er digital darstellen möchte. Doch Zuckerbergs Sehnsuchtsprojekt hat weitaus grössere Dimensionen. Kürzlich taufte er seinen Konzern auf den Namen Meta um, um den Besitzanspruch auf das Metaverse anzumelden. Der Name Metaverse entstammt einem Science-Fiction-Roman und verbindet das griechische meta mit dem Universum; gemeint ist damit jene digitale Ersatzwelt, die uns als unvermeidliche Zukunft angekündigt wird.

Bisher haben wir Interessantes und Begehrtes auf dem Touchscreen angepfotet wie Kleinkinder vor dem Schaufenster, aber nun sollen wir den Laden endlich betreten können. Im Metaverse werden wir «selber» Teil einer computergenerierten Wirklichkeit in 3-D, wir schliessen mit anderen digitalen Stellvertretern an digitalen Businessmeetings digitale Verträge ab, spielen mit falschen Karten und falschem Pokerface in falschen Hinterzimmern und werden bestimmt schon bald sexuelle Ersatzhandlungen mit Traumfrauen (und -männern) im buchstäblichen Sinn vornehmen können.

Schiessanlagen und Badestrände

Emblematisch geworden für den Zugang zum Metaverse ist das Foto, auf dem Zuckerberg stolz einen riesigen Saal voller mit Virtual-Reality-Brille ausgestatteter Auditoriumsgäste abschreitet, deren Kopfverrenkungen anzeigen, wie sie gerührt imaginären Schmetterlingen nachgucken (was sie in der Ex-Realität vermutlich noch nie einen Deut interessiert hat).

«Du wirst wirklich das Gefühl haben, dass du mit anderen Menschen zusammen bist. Du wirst ihre Gesichtsausdrücke sehen, du wirst ihre Körpersprache sehen . . . all die Möglichkeiten, wie wir kommunizieren, die die heutige Technologie noch nicht ganz bieten kann», sagte der Medienunternehmer zu seinem Projekt.

Was ist der Unterschied zwischen einem Lebenden und einem Toten, wenn man die Seele eliminiert hat?

Wie auf der Konferenz Siggraph 2022 angekündigt wurde, soll es uns schon bald möglich sein, mit der Selfie-Kamera ein dreidimensionales digitales Double unserer selbst zu erzeugen, um so Zuckerbergs Ersatzwelt betreten zu können. Doch natürlich ist die Sache mit der audiovisuellen Illusion noch nicht abgeschlossen. Angezielt wird eine totale Verschmelzung des Menschen mit dem Computer, nicht zuletzt durch Chip-Implantate, durch welche hormonelle Impulse ausgeführt werden, die alle möglichen biochemischen Prozesse simulieren. So soll dann die virtuelle Rose vom virtuellen Verehrer wie eine echte Rose duften.

Setzen wir zur Gegenüberstellung an. Raum und Zeit seien reine Anschauungen des Subjekts, meinte Immanuel Kant. Genau das sind sie nun im Metaverse: Die riesigen Büros, Schiessanlagen und Badestrände im vom Meta-Konzern entworfenen Oculus-Headset sind nichts als Trompe-l’Œil-Räume; und das Nacheinander der Geschehnisse wie der Lauf der Sonne oberhalb des Strands ist ein reines Zugeständnis an die Erlebnisgewohnheiten des staunenden Homo sapiens – das übermächtige Elektronengehirn könnte ja auch alles gleichzeitig auf die Leinwand bringen.

In der Metawelt mit ihrem Metaraum und ihrer Metazeit steht zweifellos fest, dass es kein «Ding an sich» gibt: Künstlich ist ja schon der Avatar selber, also jene Gestalt, die der User angenommen hat, um in die digitale Fata Morgana eintreten zu können, und so ist auch, was immer ihm hier «begegnet» – «Hunde», «Schachbretter», «Currywürstchen» –, nichts weiter als die Summe von computergenerierten Vorspiegelungen. Die Gesetze, nach denen alles erscheint, hat sich der Mensch in Form von Programmen auf Prozessoren selbst gegeben: siehe Kant.

Zurück ins Raumschiff Enterprise

Schon das herkömmliche Internet verdankt seinen Erfolg mindestens in Teilen dem Pornomarkt; das dürfte sich nun noch steigern. Unterschied: Der Konsument wird zum Mitmacher, der sich in einer sexy «Gaming Skin» (also wörtlich «Spielhaut») mit einem ebenso unechten Gegenüber zum «wechselseitigen Besitz der Geschlechtseigenschaften» verbindet . . .

Im amerikanischen Sprachgebrauch wird der Begriff experience (Erfahrung) genau wie in der neuzeitlichen Philosophensprache gebraucht, wie sie auch Kant verwendete – nämlich nicht als an eine Person gebundenes und damit per Definition einzigartiges Erlebnis, sondern lediglich als Sinneseindruck. Somit kann man sagen: Alle «Erfahrungen» im Metaverse sind hohler Cyber-Zauber; alles, was sich hier zuträgt und noch zutragen soll, sobald die technischen Möglichkeiten dafür entwickelt sind, findet bloss im Kopf statt. Durch Zuckerbergs Projekt vollendet sich Kants Philosophie.

Dazu als Kuriosität: Das griechische Wort meta bedeutet «jenseitig» oder «transzendental». Die sogenannte Transzendentalphilosophie aber war gerade eines der Hauptthemen Immanuel Kants und meinte eben den grossangelegten Versuch, der Aussenwirklichkeit die Struktur des Seins wortreich abzusprechen und sie insgesamt in den Menschen selber zu verlagern.

Facebook war nur eine Fingerübung. Jetzt will Zuckerberg uns allen die Realität stehlen.

«Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!», rief Kant so selbstgefällig aus, wie es nur der Theoretiker fertigbringt. Wenn die blinde Natur aus nichts als Partikeln Formen schaffe, dann müsse das ein vernünftiger Geist doch genauso gut können: dies die zugrundeliegende These – eine These, die natürlich zureichend bewiesen ist! Wie sonst könnten Captain Kirk, Spock und die schöne Uhura auf Knopfdruck in Plasma zerlegt und von der Planetenoberfläche zurück ins Raumschiff Enterprise gebeamt werden? Na gut, das ist kein Beweis im strengsten Sinn. Aber immerhin wurde die Idee damit in unseren Köpfen verankert.

Eine Gegenfrage dürfen wir allerdings stellen: Ist der Mensch wirklich nur eine Summe, die man zergliedern und wieder aufaddieren kann? Wenn das tatsächlich so ist, warum fällt es uns so schwer, den guillotinierten Kopf wieder an den König anzunähen oder auch nur die Bretter wieder zu einem Baum zusammenzufügen?

Bin ich jeweils ein anderer Mensch, wenn meine alten Körperzellen (wie uns erklärt wird) nach sieben Jahren allesamt durch neue ersetzt wurden?

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Lebenden und einem Toten, wenn man die Seele aus dem Spiel eliminiert hat? Jedenfalls wird nur einer der beiden von Würmern gefressen . . . Könnte es nicht sein, dass wir aus mehr als nur Messbarem bestehen? Wen sollen wir um verbindlichen Rat fragen, wenn wir hierauf eine Antwort suchen?

Surplus an Existenz

Man müsse die ganze Wirklichkeit vor den «Gerichtshof der Vernunft» stellen, forderte Kant. Das klingt gewichtig, also überzeugend. Aber warum eigentlich die juristische Strenge ins Spiel bringen? Steht die Welt denn unter Anklage? Und ist die Vernunft wirklich der einzige zulässige Richter?

Dabei schwappt die Fülle der Schöpfung ständig auf uns über: das sich unablässig wandelnde innere Glühen und Glimmen unserer Liebsten, das ihre Gegenwart so bereichernd macht, die dynamischen Kräfte einer Gemeinschaft, durch die wir uns energetisiert oder abgebaut fühlen, die vitale Präsenz, die wir im Wald spüren – dergleichen gibt uns schon auf einer elementaren Stufe deutliche Hinweise auf ein Surplus an Existenz, das nicht von materialistischen Theorien abgedeckt ist, auf einen Zauber. Nur macht gerade die «aufgeklärte» Gesellschaft alles, um uns aus uns selber zu vertreiben und unsere unmittelbaren Wahrnehmungen für ungültig zu erklären. Aber wer zuerst eine akademische Vollmacht braucht, um etwas empfinden zu dürfen, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen.

Nicht mehr zu helfen ist auch allen, die sich auf das Metaverse freuen.

Beefsteak oder Erotik-Pheromon?

Schlagen wir den Bogen zurück. Mark Zuckerberg gibt sich mit weniger zufrieden als Kant. Für die Welt, die er – ebenso selbstgefällig wie sein Vorgänger – bauen will, beansprucht er keine Materie, ihm reichen Bits und Bytes. Was in der Aussenwelt eine Summe von Teilchen ist, wird bei der Projektion in die Innenwelt nämlich eine Summe von Informationen.

Wie auch immer man zu den «grossen» Fragen Kants steht, mit denen sich die Kopffüssler an den philosophischen Fakultäten so ernst beschäftigen: Sicher ist, dass wir im Metaverse definitiv auf jede eigentliche Substanz verzichten werden müssen – und auch auf alles, was tatsächlich meta, also transzendent, sein könnte, auf Lebensodem, auf geheimnisvolle Schwingungen, die zwischen Menschen hin und her gehen, auf den Blick in ein Paar Augen als Gucklöcher der Seele, auf das Schöne als Namen eines immer entgleitenden Geheimnisses. Vom Sinnlichen bleibt hier der Nervenreiz, vom Übersinnlichen gar nichts.

Ist es wirklich erstrebenswert, das Leben auf einer Festplatte zu verewigen wie Graf Dracula seines unter der Grabplatte, hypnotisiert von Pixel-Gebastel und in absehbarer Zukunft auch angeschlossen an eine Direktinfusion von Nährflüssigkeit, die je nach Hirnbedarf wahlweise wie Pistazieneis, Beefsteak oder Erotik-Pheromon schmeckt? Wer darauf keine eindeutige Antwort weiss, soll den Versuch machen. Für uns Übrige bedeutet das weniger Stau auf der Autobahn.

Die psychologische Virtual-Reality-Brille, die wir uns von Philosophen mit verkümmertem Herzen haben aufschwatzen lassen, ist hingegen nicht so leicht abzulegen; sie gehört wohl zu unserem kulturellen Erbgut. Ein «Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant) muss aber doch mindestens voraussetzen, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen – und sich zu seiner Wahrnehmung auch zu bekennen! Das erfordert Mut, doch nur so ist der Reichtum der Wirklichkeit zu verkosten.

Maurus Federspiel ist Schriftsteller. Er lebt in Zürich. Zuletzt erschien von ihm «Die Vollendung» (Hollitzer, 2018).