Bern

Beschwörend sprach Bundesrat Albert Rösti im vergangenen Jahr im Parlament über drohende Stromlücken im Winter: «Egal, was in der Vergangenheit war: Wir brauchen in diesem Land sehr rasch mehr Strom, insbesondere mehr Winterstrom.» Der Berner will das Land mit dem Gesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, auch als Mantelerlass bekannt, gegen eine drohende Stromlücke wappnen.

Die Übung soll die Voraussetzungen schaffen, um rasch mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen wie Wasser, Sonne, Wind, Biomasse und Geothermie zu produzieren. Das reduziere die Abhängigkeit von Energieimporten und das Risiko von kritischen Versorgungslagen, betont Rösti bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Am 9. Juni werden wir darüber an der Urne abstimmen.

 

Rösti setzt aufs Prinzip Hoffnung

Manchmal hört sich der Energieminister jedoch an, als sei er selber nicht mehr ganz sicher. So gab er vor kurzem gegenüber den Zeitungen des CH-Media-Verlages zu verstehen: «Der Ausbau von Wasserkraft, Wind und Solar wird uns die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre hoffentlich vor einer Mangellage bewahren.» Hoffentlich? Das Prinzip Hoffnung als Handlungsmaxime?

Die eigene Basis konnte er damit nicht überzeugen. Die SVP-Delegierten verweigerten ihm am 23. März in Langenthal BE die Gefolgschaft. Es war eine bittere Heimniederlage für den Berner gegen seine parteiinterne Widersacherin, SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Sie kanzelte das Gesetz als «Bschiss» ab. Man gebe vor, bei den alternativen Energien (Wind, Sonne usw.) etwas zu machen. Dies werde nicht funktionieren, sondern teuer werden und dem Land viele Probleme bescheren. Flapsig gab Rösti zurück, sie habe die Vorlage wohl nicht richtig gelesen.

Tatsächlich ist aber bereits der Titel eine Irreführung der Stimmbürger. Er weckt den Eindruck, dass wir unseren wachsenden Strombedarf in Zukunft allein mit Wasser, Wind und Sonne sicherstellen können. «Das ist allenfalls eine Wunschvorstellung», warnte der Walliser SVP-Nationalrat Michael Graber im Nationalrat.

Ohne Weiterbetrieb der bestehenden Atommeiler über das «Verfalldatum» hinaus funktioniert Röstis Plan nicht. Beim Stromkongress im Januar bedrängte der Bundesrat darum die Energiekonzerne: «Die bestehenden Werke sollten unbedingt sechzig Jahre laufen.» Und er versprach Unterstützung für den Fall, dass die Betreiber die nötigen Investitionen in die Sicherheit nicht stemmen könnten. Wir werden zudem auch in Zukunft rund 20 Prozent des steigenden Stromverbrauchs mit Importen decken müssen.

Unsere Energiezukunft wird von Aktivisten geprägt, nicht von Technikern und Wissenschaftlern.

In den kommenden zwanzig bis dreissig Jahren ist auch keine Vollversorgung mit Strom aus Solar- und Windenergie möglich. Dazu schwanken diese Energieträger zu stark in der Leistung. Es braucht Ersatzkraftwerke zur Stabilisierung der Übertragungsnetze, wenn zu viel oder zu wenig des erneuerbaren Stroms die Leitungen belastet. Man muss zwei parallele Stromversorgungssysteme betreiben. Das ist teuer. Statt die richtigen Fragen zu stellen nach einer bezahlbaren, zuverlässigen Energieversorgung, blieb man wieder auf den falschen Antworten sitzen.

 

Sogar Sommaruga sieht’s ein

Die Energiestrategie 2050, an der auch Röstis Mantelerlass entlangschlängelt, ist Planwirtschaft pur und funktioniert nicht. Das gab sogar Röstis Vorgängerin Simonetta Sommaruga zu. «Für mich war rasch klar, dass die Energiestrategie 2050 auf die Frage der Förderung der erneuerbaren Energien ungenügende Antworten gibt, gerade im Hinblick auf die Versorgungssicherheit.» Bundesrat und Parlament haben das Dilemma auf ihre Weise gelöst. Sie setzten noch ambitiösere Ausbauziele für die alternativen Energieträger, als sie Doris Leuthard in ihrer Stromwende 2017 vorgesehen hatte und die man in Fachkreisen als schwer erreichbar bewertete. Der Mantelerlass ist die Festschreibung der planwirtschaftlichen Fehler aus der Vergangenheit.

Der grösste Teil handelt davon, wie sich eine allfällige Stromlücke im Winter schliessen lässt. Er enthält verbindliche Zielwerte zum Ausbau von Wasser-, Solar- und Windenergie – 35 Terawattstunden (TW) bis 2035 und 45 Terawattstunden (heute ca. 5 TW) bis 2050 für Sonne, Wind, Erdwärme und Biomasse. Für die Wasserkraft gelten die Zielwerte 37,9 TW bis 2035 und 39,2 TW (heute ca. 35 TW) bis 2050. Zum besseren Verständnis: Zwei Terawattstunden entsprechen etwa der Jahresleistung des Grande-Dixence-Stausees. Bei Sonne und Wind bedeutet Röstis Plan fast eine Verdreifachung der Ausbauziele, der die Stimmbürger 2017 mit dem Ja zur Energiewende zugestimmt haben.

Wie schon 2011, beim Ausstieg aus der Atomenergie nach dem AKW-Unglück im japanischen Fukushima, trafen Bundesrat und Parlament auch jetzt wieder einschneidende Entscheide im Krisenmodus. Die Beratung erfolgte 2022 unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine, der damit verbundenen unsicheren Gaslieferungen, explodierender Strompreise und einer hochstilisierten Strommangellage im kommenden Winter. Der Unterschied zur Planung von vor fast dreizehn Jahren: Damals lag der Fokus nur auf dem noch halbwegs fassbaren Ausstieg aus der Kernenergie. Dafür wurden auch keine neuen Konzepte erarbeitet, man zog dafür einfach ein paar alte Pläne aus der Schublade.

Inzwischen ist die Ausgangslage komplexer geworden: durch die horrende Bevölkerungszunahme, die Digitalisierung, die beschlossene Dekarbonisierung (Verzicht auf Gas und Öl) mit dem Netto-null-Ziel. Um dem habhaft zu werden, machten sich Bundesrat und Parlament die Konzepte linksgrüner Kreise zu eigen. Die Schweizerische Energiestiftung (SES) jubelte denn auch nach Entscheiden im Parlament: Das Ausbauziel bei Sonne und Wind bis 2035 entspreche genau einer Forderung, die die SES im Frühling zusammen mit der Umweltallianz platziert habe. Unsere Energiezukunft wird von NGO-Aktivisten geprägt und nicht von Stromfachleuten, Technikern oder Wissenschaftlern.

Wie viel am Ende tatsächlich an Wasser-, Solar- und Windkraft zugebaut werden kann, bleibt fraglich. Damit man schneller vorwärtskommt, hat man im Umweltrecht viele Hindernisse aus dem Weg geräumt. Kommt es zu einem Konflikt, hat die Energieproduktion Vorrang vor dem Umweltschutz. Entscheide der lokalen Bevölkerung werden ignoriert, Volksrechte werden massiv eingeschränkt, und die Verfahren sollen beschleunigt werden. Dabei zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass bei der Windkraft und auch bei den hochalpinen Solaranlagen der Widerstand gross ist.

 

Das Preisschild fehlt

Mit der Zustimmung zum Mantelerlass sollen wir dem Bundesrat obendrein eine Art Blankoscheck erteilen. Die Kosten dieses Planungsirrsinns haben die Regierung und das Parlament nämlich elegant umschifft und dazu keine Transparenz geschaffen. Als wäre der Ausbau zum Nulltarif zu haben, erklärte Rösti, vorläufig seien keine zusätzlichen Abgaben nötig. «Der Netzzuschlagfonds ist gut gefüllt. Genügend Mittel liegen bereit, um die bestehenden Projekte zu finanzieren.» Um dann weiter auszuführen: «Wir möchten aber, dass eine Verschuldung möglich ist.» Man werde dann sehr rasch eine allfällige Erhöhung des Netzzuschlagfonds beantragen – als Folge davon werden die Stromtarife noch mehr in Höhe schiessen.

Barbara Tuchmans legendäres Buch «The March of Folly», auf Deutsch «Die Torheit der Regierenden», beschreibt, wie Regierungen eine Politik betreiben, die ihren Interessen diametral zuwiderläuft, und Niederlagen auf jahrzehntelange Fehlentscheide zurückgehen. Obwohl den Entscheidungsträgern bewusst ist, dass es schiefgehen wird, schaffen sie es nicht, die drohende Gefahr abzuwenden. Dieser Trend zeichnet sich auch bei unserer Energiepolitik ab. Obwohl ein Scheitern absehbar ist, reihen sich Bundesrat und Parlament in den «Marsch der Narren» ein, wie man den «The March of Folly» auf Deutsch auch übersetzen könnte.