Berlin

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem Geschäftsmann aus Südkorea, der sich zum ersten Mal in Deutschland aufhielt und verunsichert wirkte. Er erzählte, dass Deutschland in seiner Heimat als Vorbild für Tugenden wie Pünktlichkeit, Ordnung und Akkuratesse, für einen solide funktionierenden Staat und gute Ingenieursarbeit gelte. Seine erste prägende Erfahrung hierzulande: eine Fahrt mit der Deutschen Bahn, bei der der Zug sein Ziel mit zwei Stunden Verspätung erreichte. Es gab auch nichts zu essen, weil das Bordbistro ausser Schokoriegeln keine Speisen im Angebot hatte. Bei der zweiten Fahrt nimmt er den Mietwagen: grosser Umweg und langer Stau, weil eine unsanierte Brücke gesperrt werden musste. Schliesslich in der Hauptstadt: Verkehrschaos, weil die Klimakleber unterwegs sind.

Man kann von Glück sagen, dass der Mann bei seinem Aufenthalt keinen Anlass hatte, eine Schule in einer ärmeren Wohngegend zu besuchen, sich um einen Kita-Platz zu bemühen, einen Termin bei einem Bürgeramt in Berlin zu erfragen oder als Kassenpatient zur Abklärung einer potenziell gefährlichen Diagnose auf einen Facharzttermin zu warten. Dann wäre sein Deutschland-Bild sicher endgültig zusammengebrochen.

Dauernotstand der Ampelkoalition

Der einzige Punkt in seiner Aufzählung, der noch halbwegs stimmt, ist die gute Ingenieursarbeit in Tausenden Industriebetrieben, vielfach Mittelständler, die das Rückgrat unserer Wirtschaft und den Grundpfeiler unseres Wohlstands bilden. Noch. Denn nachdem die Regierungen der letzten zwanzig Jahre die Infrastruktur verlottern liessen, die Verwaltungen im Ergebnis mangelnder technischer und personeller Ausstattung teilweise funktionsunfähig gemacht haben und existenzielle öffentlichen Dienste – Bildung, Gesundheit, Pflege – durch finanzielles Aushungern und verfehlte Anreize in einen Dauernotstand versetzt haben, geht es unter der Ampelkoalition jetzt auch noch unserer Industrie an den Kragen. Wenn wir nicht schnell zur Besinnung kommen, dürften die Tage, in denen Deutschland zu den führenden Industrienationen der Welt gehörte, bald gezählt sein.

Die aktuellen Wirtschaftsdaten sind so schlecht, dass es selbst einem grünen Wirtschaftsminister auffallen müsste.Die aktuellen Wirtschaftsdaten sind so schlecht, dass es selbst einem grünen Wirtschaftsminister und seinem Klüngelapparat auffallen müsste. Im Schlussquartal 2022 ist die deutsche Wirtschaft um 0,5 Prozent geschrumpft. 2023 wird es im besten Fall Nullwachstum geben, der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet ein Minus. Mit diesen Werten ist Deutschland Schlusslicht in Europa und wird es bis auf weiteres wohl bleiben.

Nur in einem sind wir Spitze: der Inflation. Die Preissteigerungen liegen seit Monaten um die 7 Prozent, und es wären noch deutlich mehr, wenn man vor kurzem nicht mal eben die Definition des zugrundeliegenden Warenkorbs verändert hätte. Lebensmittel verteuerten sich binnen Jahresfrist um 22 Prozent, für Energie müssen Familien heute 40 Prozent mehr berappen.

Niedergang der Wohlstandsstütze

Natürlich wäre es noch keine Tragödie, wenn eine starke Wirtschaft mal ein paar Quartale stagnierte. Auch eine kurzfristige Preisinflation wäre verschmerzbar, wenn alles schnell wieder ins Lot käme. Nur: Was wir zurzeit erleben, ist kein normaler konjunktureller Abschwung. Der Index, der die Produktion im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland misst, sinkt mit Schwankungen seit 2018. Der Rückgang ist mit insgesamt 9 Prozent in fünf Jahren beachtlich – und er beschleunigt sich. Besonders eindrucksvoll lässt sich das am Index der energieintensiven Produktionszweige ablesen, der in den vergangenen fünf Jahren um fast 16 Prozent eingebrochen ist, über 80 Prozent davon allein im letzten Jahr.

Das bedeutet, hinter dem Abschwung verbirgt sich der Niedergang unserer wichtigsten Wohlstandsstütze: der deutschen Industrie. Und wer glaubt, industrielle Arbeitsplätze liessen sich ohne grossen Schaden durch solche in den Dienstleistungsbranchen ersetzen, sollte gelegentlich Nordengland, den amerikanischen Rust Belt oder die deindustrialisierten Regionen Italiens besuchen. Ein Land, in dem grundsolide Werkzeugbauer aufgeben müssen und sich windige Fintechs oder Geschäftsideen wie die der «Gorillas» breitmachen, deren erbärmlich bezahlte Beschäftigte der urbanen Mittelschicht die Lebensmittel an die Haustür schleppen, ist schwerlich in einer guten Verfassung.

Dabei hatte Deutschland die Globalisierung zunächst besser gemeistert als viele andere westliche Länder, weil es uns gelungen war, die industrielle Wertschöpfung im Land zu halten. Natürlich hat es auch hier Strukturumbrüche gegeben. Arbeitsintensive Branchen wie die Textilindustrie sind weitgehend verschwunden, ebenso die Bergwerke, Hütten und grosse Teile der alten Schwerindustrie. Aber was unsere Wirtschaft trägt und gutbezahlte Arbeitsplätze schafft, sind neben einigen grossen Industriekonzernen vor allem mittelständische Qualitätshersteller, Autozulieferer, Maschinen- und Anlagenbauer, die durch ausgefeilte technologische Spitzenprodukte ihre Stellung am globalen Markt behaupten und ausbauen konnten. Dieses Modell lebte allerdings von bestimmten Voraussetzungen, und in dem Masse, in dem die Politik diese zerstört, funktioniert es nicht mehr.

Fast jedes fünfte Unternehmen will energieintensive Geschäftsfelder in Deutschland aufgeben.Zu diesen Voraussetzungen gehören ein Bildungssystem, das die benötigten Facharbeiter und Ingenieure auch hervorbringen kann, ausserdem effiziente öffentliche Verwaltungen und eine gute Infrastruktur, von intakten Strassen, Brücken und Bahnstrecken bis zu schnellen digitalen Netzen. Und zu diesen Voraussetzungen gehört für ein exportstarkes und rohstoffarmes Land zwingend eine Aussenwirtschaftspolitik, die auf faire, stabile Handelsbeziehungen mit möglichst vielen Partnern statt auf ausufernde Sanktionen und überhebliche Belehrungen setzt und die die Versorgung mit Rohstoffen und preiswerter Energie sicherstellt. Schon aus schlicht geografischen Gründen spielte Russland in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle, ebenso wie aufgrund seiner Grösse und Wirtschaftskraft mittlerweile China.

Alle genannten Voraussetzungen sind abhandengekommen. Die Konsequenzen erleben wir. Fast jedes fünfte Unternehmen will heute energieintensive Geschäftsfelder in Deutschland aufgeben. Der Chemieriese BASF wird 10 Mrd. Euro in einen neuen Verbundstandort in China investieren und seine Kunststoffproduktion im Süden der USA ausbauen, während im Inland Tausende Jobs gestrichen werden. Audi meldet, seine E-Wagen künftig in den USA fertigen zu lassen, von anderen Autoherstellern hört man Ähnliches. Und ausländische Firmen verschieben oder stoppen geplante Investitionen, weil der deutsche Standort zu unattraktiv geworden ist.

Verlagerungen sind zwar ein seit längerem zu beobachtender Trend. Seit 2012 ist etwa die Auslandsproduktion von Volkswagen, BMW, Opel und Mercedes-Benz von 8,6 auf über 10 Millionen Fahrzeuge gewachsen, während die Produktion in Deutschland um mehr als ein Drittel zurückgegangen ist. Aber solche Verschiebungen waren so lange für die deutsche Volkswirtschaft kein grosses Problem, solange wichtige Zulieferteile aus Deutschland bezogen und durch die Erschliessung grösserer Märkte auch der Export und damit die heimische Produktion angekurbelt wurden. Doch aufgrund der veränderten politischen Rahmenbedingungen bemühen sich die Konzerne neuerdings, ihre Lieferketten in immer grösserem Umfang vor Ort abzusichern. Dazu werden sie durch politische Vorgaben (China) oder finanzielle Anreize (USA) motiviert und durch immer grossflächigere Sanktionen und Decoupling-Debatten bestärkt. Zusätzlich verliert der heimische industrielle Mittelstand durch teure Energie, unsichere Rohstoffversorgung und Fachkräfteprobleme massiv an Wettbewerbsfähigkeit. Wer nicht gross genug ist, um ins Ausland zu expandieren, muss in vielen Fällen um sein Überleben fürchten.

Chinas Ehrgeiz, Amerikas Härte

Was könnte eine vernünftige Bundesregierung gegen diesen Giftcocktail, der dem deutschen Wohlstandsmodell den Todesstoss zu versetzen droht, tun? Zunächst einmal, natürlich, sich um einen effizienten Staat mit guter Bildung und Infrastruktur im Inneren kümmern. Ein Land, in dem immer weniger wirklich funktioniert, befindet sich ganz sicher auf dem absteigenden Ast. Bleibt das Problem, dass viele der weltpolitischen Veränderungen nicht von uns abhängen. Dass Joe Biden 1,2 Billionen Dollar einsetzt und ungeniert Handelsbarrieren errichtet, um die amerikanische Ökonomie zu reindustrialisieren und ihre Position gegenüber dem grossen Rivalen China zu verbessern, liegt ausserhalb der Verantwortung der Bundesregierung. Auch, dass die chinesische Führung mit dem Programm «Made in China 2025» und der «Neuen Seidenstrasse» über eine gutdurchdachte, äusserst ehrgeizige und bisher erstaunlich erfolgreiche Strategie verfügt, das eigene Land zum Technologieführer auf Schlüsselmärkten und zur neuen ökonomischen Weltmacht zu machen, die im Zweifel unabhängig von Lieferungen aus westlichen Ländern wird. Und auch der Ukraine-Krieg könnte zwar jederzeit von Washington, aber mitnichten allein von Berlin beendet werden.

Insofern stimmt: Der mit immer härteren Bandagen ausgetragene Grosskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen hat die geopolitische Lage verändert. Aber wer um alles in der Welt zwingt uns, uns in diesem Konflikt als höriger Untertan an der Seite Washingtons zu positionieren? Vor allem die vorherrschende Erzählung, dass hier angeblich das Gute gegen das Böse, der freie, demokratische Westen gegen den unfreien, autokratischen Osten kämpfe, dass es um Werte gehe statt um Interessen, um Moral statt um pekuniäre Vorteile. Besonders eifrig wird uns dieses Märchen von unserer grünen Aussenministerin aufgetischt.

Brandbeschleuniger Russland

In Wahrheit kämpft in diesem Konflikt die Weltmacht USA gegen ihren Abstieg und gegen das Ende der amerikanischen Vorherrschaft in der Welt. Und zwar nicht aus hehren moralischen Gründen, sondern weil diese Vorherrschaft amerikanischen Unternehmen und dem amerikanischen Staat viele handfeste Vorteile brachte: vom Zugang zu Rohstoffen und Märkten über die globale Sicherung von Eigentumsrechten bis hin zu der Macht, unbotmässige Regime überall auf der Welt durch Sanktionen zu erpressen. Nicht zu vergessen die Möglichkeit für den amerikanischen Staat, sich nahezu unbegrenzt im Ausland verschulden zu können, weil alle Länder Dollarreserven horten wollten beziehungsweise mussten. Diese heile Welt des US-Imperiums ist Vergangenheit, und zur Ironie der Geschichte gehört, dass der Ukraine-Krieg, der eigentlich als Stellvertreterkrieg zur Schwächung Russlands gedacht war, bei diesem Prozess als Brandbeschleuniger gewirkt hat.

Europa und ganz besonders Deutschland haben keinen Grund, der Pax Americana nachzutrauern. Ob es um Kriege oder um wirtschaftliche Fragen geht: Die US-Führung hat sich im Zweifel immer für das amerikanische und nicht für das gemeinsame Interesse entschieden. Der aktuelle Wirtschaftskrieg gegen Russland schadet uns erkennbar mehr als dem eigentlichen Adressaten, weil er die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen untergräbt. Wer die Tiraden Donald Trumps gegen die deutschen Exportüberschüsse noch im Ohr hat, ahnt, dass das kein ungewollter Nebeneffekt ist. Und der Schaden wird um vieles grösser, wenn wir uns jetzt auch noch in den Konflikt mit China hineinziehen lassen.

Macron hat’s verstanden, Scholz nicht

Erste und wichtigste Aufgabe der Aussenpolitik einer vernünftigen Bundesregierung wäre daher, statt einer fragwürdigen Moral nachzulaufen, die sich bei näherem Hinsehen als amerikanische Interessenpolitik entpuppt, unsere eigenen sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken. Wichtigstes Interesse sind Frieden und Stabilität in Europa und die Rückkehr zu beiderseitig vorteilhaften Handelsbeziehungen zu unserem grossen Nachbarn im Osten. Dass wir darauf achten sollten, uns von keinem Land völlig abhängig zu machen, versteht sich. Gleiches sollte auch unsere Maxime im Handel mit China sein. Will heissen: kein blauäugiger Freihandel, wo er zur Zerstörung wichtiger heimischer Kapazitäten führt wie einst in der Solarindustrie. Achtsamkeit, wo es bei Übernahmen nur um den Zugriff auf heimische Spitzentechnologie geht. Aber keine blinden Blockaden, mit denen wir einen zentralen Exportmarkt zerstören und uns selbst von elementaren Rohstoffen und Vorleistungen abschneiden würden.

Im europäischen und deutschen Interesse ist eine multipolare Welt anstelle der Entstehung einer bipolaren, in der uns der ungemütliche Platz eines unselbständigen Vasallen zugedacht wäre, der im Zweifel für amerikanische Interessen die eigenen opfert und im schlimmsten Fall dafür sogar in Kriege zieht. Emmanuel Macron scheint das verstanden zu haben, Olaf Scholz leider nicht. Wir brauchen eine eigenständige europäische Aussenpolitik und eine europäische Wirtschaftsstrategie, mit der wir uns für die Zukunft aufstellen und in Schlüsselbereichen – etwa Finanzen oder Digitales – endlich souverän werden. Wieso gibt es eigentlich kein durchdachtes, ehrgeiziges Programm «Made in Germany 2030»?

Sahra Wagenknecht ist Mitglied des Deutschen Bundestags (Die Linke).