Mittlerweile haben sich die Pro-Palästina-Demonstrationen auch an unseren Universitäten in rabiate Kundgebungen gegen Israel hineingesteigert. Die Zustände sind nicht so schlimm wie an amerikanischen Hochschulen, doch auch hier benutzen die Protestierenden den Krieg in Gaza, um den Staat Israel, seine Regierung und am Ende wohl auch die jüdische Bevölkerung weltweit in Misskredit zu bringen.

Bis zu einem gewissen Grad kann ich die Kritik nachvollziehen. Der Versuch der Regierung Netanjahu, die Hamas zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien, fordert offensichtlich einen hohen Blutzoll. Die Bilder der Zerstörung gehen um die Welt und überlagern die verblassende Erinnerung an das Hamas-Massaker vom 7. Oktober letzten Jahres. In unserer gefühlsgetriebenen, vergesslichen Zeit spielt das eine grosse Rolle.

Ich behaupte nicht, alle, die gegen die Regierung in Jerusalem demonstrieren, seien Antisemiten und teilten das strategische Ziel der Feinde Israels, den jüdischen Staat von der Landkarte zu wischen. Aber wenn ich mir die Bilder und Berichte aus den Unis, auch manche Artikel von Israel-Kritikern im Internet anschaue, dann habe ich doch den sich verstärkenden Eindruck, hier werde Wesentliches ausgeblendet.

Als absolute Reizfigur gilt Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu. Selbst jüdische Freunde und Bekannte sind bestürzt. Sie werfen dem Politiker vor, die Hamas-Bedrohung verschlafen und falsch reagiert zu haben. Um von den Versäumnissen abzulenken, schlage er jetzt besonders brutal zu. Dies wiederum schade dem Ansehen der Juden weltweit, die nun ins Visier von Zorn und Vergeltung kämen.

Ich kann Netanjahus Leistung umfassend nicht beurteilen, aber ich frage mich, was er anders hätte tun sollen. Wie hätte ich an seiner Stelle reagiert auf jenen 7. Oktober, als Hamas-Brigaden aus heiterem Himmel gleichsam mein Land überfallen, weit über tausend Mitbürger quälen, vergewaltigen, umbringen, wahllos Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, und darüber hinaus auch noch über 200 Geiseln verschleppen?

Ein terroristischer Anschlag wie jener vom 7. Oktober 2023 würde jedes Land im Kern erschüttern. Staaten verlieren ihren Sinn, wenn sie es nicht schaffen, ihre Bürger, die Steuern zahlen und den Gesetzen folgen, mit einem Mindestmass an existenzieller Sicherheit zu versorgen. Dieses Ur-Vertrauen wurde am 7. Oktober zertrümmert. Netanjahu musste handeln, das Schutzvertrauen wiederherstellen.

Wie aber macht man das gegen einen Feind, der sich in einem milliardenteuren labyrinthischen Fuchsbau an Betontunneln unter den Wohngebieten des Gazastreifens eingebunkert hat? Die palästinensischen Hamas-Behörden dürften einen Grossteil der internationalen Entwicklungshilfe nicht in den Aufbau der Wirtschaft, sondern in diese militärische Infrastruktur investiert haben. Mysteriöserweise liess Israel es zu.

Wir haben es demnach mit einem klassisch asymmetrischen Konflikt zu tun. Auf der einen Seite stehen die regulären israelischen Streitkräfte. Auf der anderen Seite steht die Hamas, die gezielt und wohl auch absichtsvoll die eigene palästinensische Bevölkerung als Schutzschild missbraucht. Im Wissen darum, dass die zivilen Opfer gewichtige Vorteile bringen im Propagandakrieg von Medien und Politik.

Und tatsächlich scheint das Kalkül dieser radikalislamischen Gruppierung allmählich aufzugehen. Gaza versinkt in Trümmern, Tausende von zivilen Opfern sind zu beklagen, und weithin vernehmbare Teile der Weltöffentlichkeit entrüsten sich – allerdings nicht über die Hamas, die sich unter den Zivilisten versteckt, sondern über Israel, das die Geiseln befreien und die Hamas ausschalten will.

Kritiker Israels halten mir an diesem Punkt entgegen, man müsse auch die Hamas verstehen, den Zusammenhang, aus dem sie entstanden sei. Die im Westen als Terror-, in der arabischen Welt offenbar als Befreiungsorganisation gesehene Gruppe sei dem Unrecht entwachsen, das den Palästinensern seit der Staatsgründung Israels 1948 – obwohl das Wort Palästinenser erst später aufkam – zugefügt worden sei.

Tatsächlich reicht dieser Konflikt weit zurück, ich vermute weiter als 1948 bis in biblische Zeiten. Es ist eine sehr komplexe politische Situation, für die es keine einfache Lösung gibt. Daraus allerdings abzuleiten, die Gräueltaten der Hamas und ihre Ziele, Israel zu beseitigen, seien legitim und die Handlungen Israels im Umkehrschluss ebenso eindeutig und schärfstens zu verurteilen, sind meines Erachtens irrig.

Netanjahu musste sich wehren, er musste zurückschlagen. Ich wüsste nicht, was ich an seiner Stelle anders getan hätte. Die Art der Gefechtsführung wird ihm von der Hamas diktiert. Entweder er schickt seine Truppen in einen verlustreichen Häuserkampf gegen die unterirdischen Stellungen in Wohngebieten, unter Spitälern und Schulen. Oder aber er setzt Kampfjets und Panzer ein, um die militärische Infrastruktur zu zerstören. Dieser Tage hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag Haftbefehle gegen die Hamas und gegen Israel beantragt. Ist das Tribunal gewillt, einen demokratischen Rechtsstaat auf die gleiche Stufe zu stellen wie eine islamistische Kampforganisation, die gemäss ihrer Gründungscharta die Auslöschung Israels und die Tötung aller Juden beabsichtigt und zum Teil auch realisiert?

Der juristische Angriff hat in Israel fassungslose Empörung ausgelöst. Wohl zu Recht, denn auch Den Haag scheint auszublenden, dass die zivilen Opfer von der Hamas ganz bewusst provoziert werden, Teil der Guerilla-Kampftaktik sind, auf die es die Islamisten angelegt haben. Israels Streitkräfte hingegen senden vor Bombenangriffen Warnungen aus, ermöglichen humanitäre Korridore.

Im Übrigen frage ich mich, warum etwa die Ägypter ihre Grenzen nicht öffnen für ihre Glaubensbrüder aus Gaza. Leute, die mit der Situation besser vertraut sind als ich, haben seit Jahren den Verdacht, dass die Palästinenser seit Jahrzehnten von den Israel-Gegnern als eine Art Speerspitze gegen den Judenstaat missbraucht werden und sich leider auch missbrauchen lassen. Macht sich Den Haag zum Instrument dieser Kräfte?

Ich misstraue dem simplen Täter-Opfer-Schema, das viele Israel-Kritiker bei diesem Konflikt anwenden. Sie scheinen mir damit eine Haltung zu bestätigen, die sich auf palästinensischer Seite wenig vorteilhaft auswirkt. Der Opfermythos ist für jedes Volk ein Hindernis auf dem Weg zu einer erfolgreichen Zukunft. Möglicherweise hat er auch die Palästinenser daran gehindert, mehr aus ihrem Gazastreifen gemacht zu haben.

Wie wehrt man sich gegen einen rücksichtslosen Angreifer, der die eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild zu opfern bereit ist? Und wie stellt man sicher, dass die eigene Bevölkerung wieder das Vertrauen zurückgewinnt in die Schutzfunktion des Staates? Das sind die Fragen und Aufgaben, denen sich Ministerpräsident Netanjahu zu stellen hat. Die Israel-Kritiker gehen mir allzu leichtfertig darüber hinweg.

Und noch eine Erkenntnis, die etwas provokativ erscheinen mag, sollten wir im Auge behalten: Legen die Palästinenser die Waffen nieder, haben wir Frieden. Legen die Israeli die Waffen nieder, haben wir kein Israel mehr. Das palästinensische Volk ist wohl auch das tragische Werkzeug einer uralten Feindschaft. Deren heutige Vorantreiber, vor allem im Iran, setzen alles daran, den Staat Israel erneut zu vernichten.