Noch haben sie sich in Brüssel nicht ­erholt. Ungarns Premier Viktor Orbán, seit einer guten Woche für ein halbes Jahr auch Vorsitzender des EU-Ministerrats, wirbelt für den Frieden durch die Welt. Zuerst war er auf Blitzbesuch bei Präsident Selenskyj in Kiew. Noch auf der Rückfahrt über die löchrigen Autobahnen der Ukraine fädelte er ein Gipfeltreffen mit Russlands Staatschef Putin für die gleiche Woche ein. Im Flieger von Moskau hoffte Orbán, in Bergkarabach den türkischen Präsidenten Erdogan zu sehen. Doch der mächtige Herrscher am Bosporus hatte sich kurzfristig an die Fussball-EM in Deutschland abgemeldet, um in politischen Turbulenzen seinem Nationalteam beizustehen. Unbeirrt stürmte Orbán weiter. Diesen Montag landete er zur wachsenden Verblüffung seiner Kritiker in Peking bei Xi Jinping.

Was ist hier los? Leidet der Regierungschef eines mittelgrossen Landes im östlichen Teil Europas unter einem Mangel an Aufmerksamkeit? Hat Orbán ein Ego-Problem? Packte der Grössenwahn den ja schon seit langem verhaltensauffälligen Ministerpräsidenten? Es war lustig, den kollektiven Ausbruch von Häme und Entsetzen zu erleben, als Orbán von einem Ziel zum nächsten strebte. Politiker und Medien beeilten sich, seine Initiative herunterzuspielen. Sie meckerten, als hätte Orbán in Brüssel eben auf gröbliche Art das Hofzeremoniell verletzt. Missbrauch des Amtes! Überschreitung der Kompetenzen! Geht gar nicht, dass einer mit dem Kriegsverbrecher Putin redet! Die Heissluftfront an Kritik schien Orbán freilich nicht zu bremsen. Als einziger Journalist, der ihn während dieser bewegenden Woche begleiten konnte, hatte ich den Eindruck, sie beflügle ihn.

Für die schrillen Reaktionen gibt es nur einen Grund: Orbán führt die EU vor. Im grossen Stil. Er zeigt, wie man es macht. Auch den Schweizern. Unser ängstlicher Bundesrat, der keine Fehler machen will, liess sich von den Ukrainern den Bürgenstock aufs Auge drücken, diese Friedensfarce der Einseitigkeit, das Gegenteil von allem, wofür die Schweiz mit ihrer Neutralität seit über 200 Jahren steht. Orbán ist klüger und vernünftiger als alle zusammen. Vor allem sitzt er nicht herum und flucht über Putin wie die andern, die zwar über Frieden reden, ihn aber verhindern, indem sie nur immer noch mehr und noch gefährlichere Waffen rüberpumpen in der irrigen Hoffnung, die Nuklearmacht Russland sei militärisch doch noch zu besiegen. Dafür nimmt man hin, dass jede Woche Hunderte, manchmal Tausende Ukrainer auf dem Schlachtfeld sterben.

Die Berichterstattung über Orbáns Friedensreisen ist peinlich für den Journalismus, eine Fallstudie des präventiven Niedermachens, aber insofern auch entlarvend. Wieder einmal wirken Brüssel und die Medien als kommunizierende Röhren. Die einen blasen auf, was die anderen behaupten. Mit ganz wenigen Ausnahmen. Draussen in der Wirklichkeit hingegen fragen sich immer mehr Betrachter: Seit wann ist es eigentlich verboten, dass sich in kriegerischen, ja kriegsberauschten Zeiten wenigstens ein hochrangiger EU-Politiker noch für den Frieden engagiert? Orbáns Kapitalverbrechen besteht anscheinend darin, dass er nicht nur mit einer, sondern mit beiden Kriegsparteien spricht. Worte statt Waffen. Früher nannte man es Diplomatie. Die Welt spinnt. Wir leben wirklich in verrückten Zeiten.

Der grösste «Profit» von Orbáns Gesprächen kann der Frieden sein, für ganz Europa.

Dabei müssten sie Orbán dankbar sein. Der unkonventionelle, mutige Ungar ist ein Robin Hood der Gegenwart, Ehrenretter der Konservativen und vielleicht der letzte Lordsiegelbewahrer der Realpolitik, ein Erwachsener unter angegrauten Polit-Teenagern, der Macher und Zupacker, umzingelt, umschwirrt von Schwätzern und Theoretikern. Sein grosses Verdienst besteht darin, dass er das Packeis der Gesprächsverweigerung aufknackte, das die EU daran hinderte, endlich einen konstruktiven Friedensdialog mit allen Beteiligten aufzubauen. Durch seinen Austausch mit Selenskyj, Putin und Xi wuchtete er nicht nur das Thema Frieden an die Spitze der Agenda. Er reparierte auch die verschütteten Kanäle der Verständigung. Dabei gab Orbán nicht den arroganten Oberlehrer. Als aufmerksamer Zuhörer sass er mit den Mächtigen am Tisch.

Diplomatie bedeutet, dass man auch mit jenen redet, deren Meinung man nicht teilt. Darum sind die Kommentare besonders ärgerlich, die aus dem Schmollwinkel der Ignoranz dem Ungarn eine Übernähe zu den Russen unterstellen. Wer das sagt, kennt die Geschichte dieser Länder nicht, hat keine Ahnung von Orbáns Biografie. Unterdessen sterben an der Ostfront Menschen, jede Stunde, jeden Tag. Der Westen hält diese mörderische Maschinerie so sehr in Gang wie Putin. Soll die Ukraine gänzlich verbluten, damit die Rechthaber auf allen Seiten keine Abstriche machen müssen an ihrem moralischen Selbstgefühl? Putin ist bereit, über den Frieden zu reden. Selenskyj sucht den totalen Sieg. So rückt ein dritter Weltkrieg immer näher. Und alle, die sich jetzt so höhnisch über Orbán äussern, nehmen die Gefahren verantwortungslos in Kauf.

Zum Glück rettet wenigstens einer noch die Ehre Europas. Gott sei Dank gibt es einen wie Orbán, der gegen Widerstand beweist, dass es auch anders geht. Wenn man aufhört, an die Möglichkeit von Gesprächen zu glauben, wenn man mutwillig oder aus Dummheit die diplomatischen Kanäle sprengt, gibt man die Hoffnung auf den Frieden auf. Das hat Orbán erkannt. Dagegen richtet sich sein Handeln. Die Wichtigtuer in Brüssel, die ausser einer gescheiterten Sanktionspolitik seit zweieinhalb Jahren wenig zustande bringen, werfen Orbán vor, er sende die «falschen Signale» aus und schaue nur auf seinen und auf Ungarns eigenen Profit. Auch hier fragen wir in aller Verwunderung zurück: Sind Frieden und Friedensbemühungen, ist die Rückkehr zur Diplomatie in kriegerischen Zeiten ein falsches Signal?

Der grösste «Profit» von Orbáns Gesprächen kann der Frieden sein, nicht nur für die Ukraine, für ganz Europa. Jetzt müssen sie Farbe bekennen. Die EU wie die Nato, die eben ihren 75. Geburtstag feiert, haben als Projekte des Friedens begonnen. Wofür stehen sie heute? Für Frieden oder für Krieg? Dieser Frage kann man nach dieser historischen Woche so leicht nicht mehr entrinnen.