Unsere Geschichte beginnt in der Schwärze von Mississippi, kurz vor Mitternacht, wir kommen von Süden, gleiten auf Nebenstrassen durch Sumpfgebiete und Baumwollfelder, an den Geburtsstätten des Delta-Blues vorbei, wie der Dockery Plantation, die heute als Touristensehenswürdigkeit für noch schwärzere Erinnerungen dient – oder an jener legendären Kreuzung in Clarksdale, wo der «King of Delta Blues», Robert Johnson, angeblich seine Seele an den Teufel verkaufte, um von ihm den Blues zu lernen

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Alte Geigen an den Wänden

Irgendwann liegt Memphis, Tennessee, vor uns, im Lokalradio wird «That’s All Right» des schwarzen Bluessängers Arthur Crudup gespielt – ein Song, der den vielleicht ehrlichsten Satz der Popgeschichte auslöste: «Könnte ich einen Weissen finden, der diesen Sound und das Feeling eines Schwarzen hat, dann könnte ich eine Million Dollar machen.» Doch Sam Phillips, Gründer von Sun Records und Entdecker von Elvis Presley, findet nur Schwarze – bis im Frühjahr 1954. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir stoppen an der Union Avenue, halten eine Andacht beim legendären Sun Studio. Draussen ist es dunkel, schwarz, bedrohlich. Memphis gehört zu den amerikanischen Städten mit der höchsten Mordrate im Land. Und wir wollen raus aus der Schwärze, ins «weisse Land des Country» (Rolling Stone Magazine), in Richtung Nashville, wo angeblich seit Jahren fast alle erfolgreichen Fäden im amerikanischen Popgeschäft gespannt werden, wo die phänomenale Karriere von Taylor Swift begann – und sich nebenbei eine noch nie gesehene Einwanderungswelle ergiesst. Besonders kalifornische Zuzügler würden Zentral-Tennessee überrennen, die Lebenshaltungskosten seien hier niedriger, und es werden keine Einkommenssteuern verlangt.

«Klingt fast so, als ob sich zwei befehdende Clans durch Heirat miteinander verbunden hätten.»Nein, wir sind nicht an Einwanderung interessiert. Wir reisen als Musikliebhaber. Doch je tiefer wir jetzt in die Mitte Amerikas vorstossen, desto stärker wirken die dunklen Erinnerungen – und eine komplizierte Gegenwart: «Country and Western» sei Redneck-Musik, rassistisch, der Soundtrack von Hinterwäldlern, Donald Trump, Bigotterie – von weissen Songwritern geschrieben, von überwiegend weissen Männern gesungen und für ein weisses Publikum bestimmt.

Und während jetzt die Schwärze auf dem Interstate 40 immer wieder von entgegenkommenden Scheinwerfern durchlöchert wird, lassen wir nochmals Revue passieren, was unsere Leidenschaft für diese Story in den letzten Tagen noch gesteigert hat: Wie wir nämlich in Mississippi alte Geigen an den Wänden von alten Honky-Tonk-Bars ausgestellt gesehen haben, die einmal schwarzen Geigenspielern gehörten und die sie dort zurückgelassen hatten, oft Sklaven, die Ende des 19. Jahrhunderts vertraute Figuren waren, sowohl bei schwarzen als auch bei weissen Feiern – wobei sie das Geigenspielen wiederum von irischen Einwanderern gelernt hatten, die sie als Sklaven hielten. In den gleichen Bars hing aber auch das Standardinstrument des Country – das fünfsaitige Banjo –, von dem der vielleicht wichtigste Pophistoriker der USA, Greil Marcus, behauptet, dieses Banjo sei von afrikanischen Sklaven in die USA eingeführt worden, und es seien wiederum schwarze Eisenbahnbauarbeiter gewesen, die Anfang des 20. Jahrhunderts massgeblich dafür verantwortlich gewesen seien, dass die Gitarre – damals in erster Linie ein Flachlandinstrument – in den abgelegenen Tälern der Appalachian Mountains zur fruchtbarsten Keimzelle von Countrymusic mutierte. Schwarze Innovationen wurden also kontinuierlich in das aufgenommen, was wir heute als «Country and Western Music» kennen – und kontinuierlich weiss getüncht.

«Klingt fast so, als ob sich zwei befehdende Clans durch Heirat miteinander verbunden hätten», sagt jetzt meine Reisepartnerin am nächsten Morgen, während sie in Richtung aufgehender Sonne über dem Interstate 40 blickt, in eine Hillbilly-Landschaft, die immer mehr an unser heimisches Emmental erinnert. «Aber es muss eine völlig natürliche Ehe gewesen sein. So was wie historisch gewachsene Inspirationsprozesse . . .»

Und diese Prozesse sollen das moderne Nashville in die «erfolgreichste Pop-Manufaktur der Welt» (New York Times) verwandelt haben. Ein Multikulti-Himmel, in dem die Vergangenheitsbewältigung abgeschlossen sei. Wo Hip-Hop, Heavy Metal oder zuckersüsser Pop längst mit dem Label Country fusionieren und das sogenannte Aneignen fremden Kulturguts nicht nur historisch die normalste Sache der Welt bedeutet und zum Geschäftsmodell gehört – sondern auch als unerschütterliches Menschenrecht verstanden wird.

 

Delta-Blues, Country-Balladen

Aber wie soll das gehen? Hip-Hop mit Hühnerstall mischen? Sneakers gegen ein paar Cowboystiefel eintauschen? Und können Afroamerikaner im Country wirklich ihre eigene Musik erkennen?

Noch 140 Meilen bis Nashville. Die Helligkeit ist zurück. Und der Tod. Wir besuchen jenes Waldstück nahe Camden, Tennessee, wo am 5. März 1963 der erste Popstar der Countrymusic bei einem Flugzeugabsturz stirbt: Patsy Cline. Bei einem bemoosten Gedenkstein im Wald huldigen wir ihrer Musik und ihrem Erbe: der erste Star des sogenannten Nashville-Sounds an der Schnittstelle zwischen Country und Pop, eine Frau, die ihre Karriere in einem von Männern dominierten Country-Kosmos selbst kontrollieren wollte, was Patsy Cline bis heute zum grossen Vorbild macht – für Superstars wie Taylor Swift, Kultsängerinnen wie Cat Power oder das Trio The Dixie Chicks (das kürzlich das «Dixie» aus ihrem Bandnamen strich – ein Synonym für den alten Süden der USA. Zur Erinnerung: Die Südstaaten hatten im Bürgerkrieg dafür gekämpft, dass die Sklaverei erhalten bleibt.) Und Patsy Cline machte nie einen Hehl daraus, wie nah für sie Delta-Blues, Country-Balladen und Songs über Flüsse und Berge und enttäuschte Liebe als originär amerikanisches Liedgut waren. Denn schwarze und weisse Musiker hätten sich im amerikanischen Süden stets über alle Rassenschranken hinweg ausgetauscht und dabei parallele Vorlieben für gewisse Instrumentationen und Texte entwickelt.

Wir biegen jetzt ab in Richtung Osten, hören gerade den Patsy-Cline-Song «Crazy» – geschrieben vom damals 25-jährigen Willie Nelson, eine Hymne eines sich nur scheinbar emanzipierenden Genres –, als sich die Ereignisse in unserer Gegenwart überstürzen: Es ist Dienstag, 4. Oktober 2022, 9.15 Uhr, als das reguläre Programm des Country-Senders WSM für eine dringende Meldung unterbrochen wird. Loretta Lynn sei letzte Nacht in ihrem Zuhause in Hurricane Mills im Kreis der Familie gestorben. Sie wurde neunzig Jahre alt.

 

«Was für eine Aneignung?»

Wir ändern unsere Route, biegen nach Süden ab, in Richtung Ranch von Loretta Lynn in Hurricane Mills, dreissig Meilen von der Absturzstelle in Camden entfernt. Neben Tammy Wynette und Dolly Parton war Loretta Lynn eine der grossen klassischen Country-Sängerinnen. Wie ihre Freundin Patsy Cline thematisierte Lynn in den meist selbstgeschriebenen Songs ihre proletarischen Wurzeln im amerikanischen Hinterland. Geboren 1932 in einem Dorf in den Appalachen in Kentucky, arbeitete ihr Vater als Bergarbeiter in der Mine. Von dieser Herkunft erzählt auch ihr grösster Hit, «Coal Miner’s Daughter», Titel der gleichnamigen Autobiografie, die 1980 verfilmt wird, mit der Hauptdarstellerin Sissy Spacek, die für ihre Darstellung den Oscar gewann. Vor ein paar Jahren, nach einer längeren flauen Phase, gelang Loretta Lynn nochmals ein Comeback – dank Jack White, Kopf der Garage-Rock-Band The White Stripes, der ihr Album «Van Lear Rose» produzierte. Der back to the roots-Produzent, der keine Berührungsängste mit Nashville kennt, wird nie müde, von der Verstrickung schwarzer Künstler im Country zu schwärmen. Es sei «die Geschichte einer grossen, schwer geprüften und oft verleugneten Liebe, die es immer noch zu entdecken» gebe. Waren doch afroamerikanische Musiker von den ersten Aufnahmen an Teil der Country-Tradition. Und schon davor. «Hillbilly-Musik» habe sich zwar aus dem von anglokeltischen Einwanderern nach Nordamerika gebrachten Reservoir von Folksongs, Balladen und Tänzen entwickelt. Von allen ethnischen Gruppen habe aber keine eine bedeutendere Rolle gespielt als die aus Afrika verschleppten Schwarzen. Gerade den ersten weissen Country-Stars sei von einheimischen oder reisenden afroamerikanischen Musikern das Spielen oder Singen beigebracht worden. Das gelte für Jimmy Rodgers, Hank Williams oder Johnny Cash genauso wie für «Coal Miner’s Daughter» oder Patsy Cline.

Vor der Ranch von Loretta Lynn sind jetzt Übertragungswagen von Radio- und Fernsehstationen aufgefahren. Eine lange Wagenkolonne von trauernden Fans schlängelt sich über die riesige und idyllisch gelegene Ranch. Wir legen Rosen beim Haupteingang nieder. Ein Reporter der Zeitung The Tennessean hört uns dabei schweizerdeutsch sprechen. Und er möchte jetzt die Meinung des Auslands in seinem Bericht unterbringen. Er fragt nach, welchen Einfluss Countrymusik in der Schweiz habe. Ich bleibe vorsichtig, sage nur, dass Country eine riesige Strahlkraft habe. Aber es gebe viele Missverständnisse. Denn auf dieser Reise sei uns mal wieder klargeworden, wie stark Country Anleihen bei schwarzen Quellen gemacht habe. Wir seien gekommen, um das noch besser zu verstehen. Ob Country wirklich eine Musik für Weisse geblieben sei. Oder ob auf diesem herrlichen Flecken Erde vielleicht auch schon dieser seltsame Begriff «kulturelle Aneignung» diskutiert werde.

 

Jodeln wie Rodgers

«Was für eine Aneignung?», fragt jetzt der Reporter, während er sein Mikrofon ausschaltet. Er ahnt, was kommen könnte. Und bemüht sich um eine repräsentative Antwort – als progressiver Amerikaner. Er könne die Anschuldigungen überhaupt nicht verstehen. Mitglieder der Carter Family (eine der ersten Superstar-Gruppen der Countrymusik) hätten bereits in den 1920er Jahren unbekannte schwarze Blues-Songs in ihr Repertoire aufgenommen. Jimmie Rodgers (ein weiterer früherer Country-Superstar) war ein einfacher Eisenbahnarbeiter, bevor er berühmt wurde, einer, der von seinen schwarzen Arbeitskollegen im Gitarrenstil stark beeinflusst wurde, der Blues-Songs erfolgreich interpretierte und mit seinem charakteristischen yodelling verband – und ironischerweise wiederum ein grosser Einfluss für spätere Blues-Musiker wie Muddy Waters und Howlin’ Wolf wurde. Letzterer sagte selbst, sein namensgebender howlin’-Gesangsstil habe sich aus seiner Unfähigkeit, wie sein Vorbild Jimmie Rodgers jodeln zu können, entwickelt.

Die ersten weissen Country-Stars lernten das Spielen oder Singen bei afroamerikanischen Musikern.

Die gegenseitige Inspiration habe noch sehr viel mehr Juwelen hervorgebracht, sagt jetzt der Reporter des Tennessean, während auf seiner Stirn Schweisstropfen perlen. «Ray Charles coverte bereits 1962 erfolgreich Country und zeigte, wie viel R ’n’ B darin steckt. Es folgte der schwarze Countrysänger Charley Pride, der in den sechziger und siebziger Jahren mit 36 Nummer-eins-Country-Singles zu den bestverkaufenden Stars seines Genres gehörte.» Er streicht sich jetzt den Schweiss von der Stirn. «Wollen Sie noch mehr hören?»

Zwei Stunden später. Wir fahren durch die Vororte eines immer rasanter wachsenden Molochs: Nashville. An Gemeinden vorbei, die offenbar auf dem Reissbrett entworfen worden sind, mit Golfplätzen, Angelteichen und Tennisplätzen – und einer kulturellen Homogenität, die ein Wohlfühlklima in einem Bundesstaat schaffen soll, der von den Republikanern meistens mit 70 Prozent der Stimmen gewonnen wird. Hier drängen sich längst keine Kuhherden mehr auf der grünen Wiese, sondern hier ist der erfolgreichste «Cluster» der amerikanischen Musikindustrie entstanden. Also eine Ansammlung von Unternehmen und anderen Institutionen aus einer Branche an einem Ort, die miteinander verbunden sind – wie Los Angeles für die Filmindustrie, New York für die Finanzwelt, Silicon Valley für das Computerzeitalter. Eine Stadt mit mehr als 340 Musikproduktionsstudios, wo Musiker und Tontechniker wahrscheinlich mehr Chancen haben, einen Job zu finden, als sonst irgendwo auf der Welt. Und eine Country-Industrie, in der das typecasting längst zur Regel geworden ist – bei dem also Interpreten nach Aussehen gecastet werden, von Styling- und Image-Beratern auf Erfolg getrimmt und die dann von Profi-Hitschreibern einen Song aufgedrückt bekommen, der mittels TV-Powerplay zum Hit gemacht wird. In der Hauptrolle: meistens blonde, knackarschige Jungs mit Cowboyhut.

Meine Reisepartnerin erinnert mich jetzt daran, dass diese Sorte Künstlichkeit, Kommerz und Diskriminierung traditionell auch immer Gegenbewegungen auslösen werde. Stimmt! Da war der «Bakersfield Sound» von Buck Owens, Merle Haggard oder Dwight Yoakam, als direkte Revolte gegen die Nashville-Studioclique. Oder der Outlaw-Country von Willie Nelson, Waylon Jennings, Kris Kristofferson – bis zum Country Rock der späten 60er und 70er mit The Byrds, Gram Parsons, Flying Burrito Brothers et cetera. Oder der Cow-Punk der 80er mit Green on Red, Jason & the Scorchers über den Alternative-Country der 90er mit Wilco, The Jayhawks, Steve Earle, Lucinda Williams bis zum Sound von New Weird America, deren stilistischer Schwerpunkt im Psychedelic Country oder Freak-Folk liegt.

 

Partyboot mit Whirlpool

Und jetzt also Black Country? Umfragen hatten ja schon vor ein paar Jahren ergeben, dass ein knappes Viertel der Country-Radiokonsumenten schwarz und junge urbane Afroamerikaner sind: die am schnellsten wachsende Hörergruppe. Genau auf solche Signale hatten Hip-Hop-Stars und Produzenten nur gewartet. Während sich das eigene Genre im kommerziellen Sturzflug befand, erschien der Graben zum Marktführer Country plötzlich schmäler als je zuvor. Was dazu führte, dass ein Rapper aus St. Louis namens Nelly für ein Duett mit dem Country-Superstar Tim McGraw kollaborierte. Dass sich ein alter Gangsta-Rap-Bekannter aus Los Angeles, Snoop Dogg, auf einem Album vor dem real American gangster Johnny Cash verneigt, während mit Akon einer der erfolgreichsten Hip-Hop-Produzenten nicht nur für einen Song das Ufer wechselte, sondern gleich ein ganzes Country-Album einspielte.

Die Welt ist aus den Fugen. Und als wir endlich Downtown Nashville erreichen, ist es kurz nach Mittag in der Mitte Amerikas. High Noon an der legendären Fifth Street, nahe Broadway: Wir schleichen hinter einem Party-Fahrzeug her, wo schreiende Frauen in Tanktops mit dem Slogan «Let’s Get Nashty!» über ein Geländer lehnen. Hinter ihnen ein Lastwagen, der zum Partyboot mit Whirlpool umgebaut wurde, ein ausgedientes Militärfahrzeug mit Drag-Darstellern, und ein alter Schulbus namens Bertha mit Hörnern. Schon mittags herrscht Street-Parade-Atmosphäre in Nashville, mit einem täglich anwachsenden Strom von vorwiegend weissen amerikanischen Touristen und Country-Fans, die sich über Downtown ergiessen. Sie kommen alle, um das zu sehen, worüber sie in Songs hörten, was sie aus TV-Serien wie Nashville kennen und wovon sie träumen, wenn sie ihr Leben vergessen möchten.

Ein Traktor von John Deere rumpelt jetzt mit fünf Meilen pro Stunde über den Broadway – vorbei am National Museum of African American Music, das die von Afroamerikanern inspirierten, geschaffenen oder beeinflussten Musikgenres zeigt, mitten im Herzen von Nashville. Seine Lage an der Ecke Fifth Street und Broadway, im Gegensatz zur historisch schwarzen Jefferson Street, löste vor ein paar Jahren einen Skandal aus. Das Museum sollte auf Wunsch der afroamerikanischen Gemeinde dort errichtet werden, wo einst Geschäfte zerstört wurden und die Stadt ihre schwarzen Bürger schon immer wie Menschen zweiter Klasse behandelte. Die Stadtregierung lehnte ab. Was den Touristenstrom nicht bremsen konnte. Fünfzehn Millionen Besucher werden dieses Jahr nach Nashville reisen. Rekord. Und nichts kann ihre Laune trüben. Auch nicht der Skandal um ein afroamerikanisches Kulturmuseum, das am falschen Ort steht. Sie wollen vergessen. Das ist alles. Und als wir dann selbst auf eines der unzähligen Partyboote steigen, auf dem weisse Männer und Frauen bereits mittags feiern und abwechselnd Bier und Bourbon trinken, gelangen wir plötzlich mit einer Besucherin ins Gespräch, die gerade noch zum Sound von Shania Twain getanzt hat. Sie komme aus Boston und sei riesiger Country-Fan. Und ihr? Ich erzähle, dass wir eine Musikgeschichte recherchierten – und es dabei ständig mit der Vergangenheitsbewältigung zu tun bekommen würden.

«Nennen Sie mich Laura», sagt sie jetzt und drängt zur Bar. Sie sei Neurologin und mit ihrer Bostoner Fakultät auf Studienreise. «Wer sich gut vergnügen will, muss vergessen können. Ist sogar wissenschaftlich erwiesen. Also vergessen Sie die Vergangenheitsbewältigung.» Sie schaut jetzt lachend zu ihrem Mann, der gerade zu Garth Brooks tänzelt. Sie will sich definitiv nicht von ein paar Europäern die Laune verderben lassen. Schliesslich gehe es in Tennessee um sechs bewährte Pfeiler des Vergnügens: Country, Bluegrass und Gospel; BBQ, Bier und Bourbon. Und um die Kunst des Vergessens, sagt Laura mit gespielt ernsten Blick, jetzt ganz die Neurologin. «Vergessen ist die wohl wichtigste Voraussetzung für menschliches Denken, Handeln, Planen und, ja, auch für das Erinnern . . .»

Vergessen?

«Ja!», schreit sie mir jetzt beschwipst ins Ohr und hält sich gleichzeitig an meiner Schulter fest. «Wir haben verlernt zu vergessen! Ohne Vergessen sind wir nicht lebensfähig. Sonst überlastet uns die Flut an Informationen. Gezieltes Vergessen entlastet!» Und sie schaut mich dazu mit dem überlegenen Blick einer amerikanischen Akademikerin an, die den europäischen Gästen eine Lektion in Sarkasmus erteilen will. «Unser Gehirn fällt Entscheidungen im Millisekundentakt: Welche Erinnerung brauche ich, und auf welche kann ich verzichten? Das geht Schweizern bestimmt genauso wie Amerikanern. Ein Zuviel an Informationen versetzt unser Gehirn in Alarmmodus. Und beim Abfeiern kann ich diesen Alarmmodus echt nicht gebrauchen!»

 

Stille in Downtown Nashville

Laura lacht. Schwankend offeriert sie uns einen Bourbon aus Knoxville, um auf ihren Jux anzustossen. Es ist plötzlich stiller geworden in Downtown Nashville. Es läuft der andächtige Dolly-Parton-Song «I Will Always Love You». Und ich frage ganz humorlos nach, ob nicht einiges für die Annahme spreche, dass der Mensch nie ganz und gar vergessen könne? Es herrscht jetzt Pause auf dem Partykahn. Und Laura antwortet nicht mehr.

Tom Kummer ist Schriftsteller in Bern und literarischer Korrespondent der Weltwoche. Er lebte über 20 Jahre lang in Los Angeles.