Auch Politiker müssen sich an das Recht halten. Das sehen Politiker manchmal anders. In der Schweiz beklagt sich der sozialdemokratische Schaffhauser Ex-Ständerat Simon Stocker gerade bitterlich. Das Bundesgericht setzte den linken Überraschungssieger der letzten Wahl kurzerhand ab, mit der Begründung, er sei nicht wählbar gewesen, weil er zum Zeitpunkt der Wahl seinen Wohnsitz, seinen Lebensmittelpunkt nicht im Kanton Schaffhausen, sondern im Kanton Zürich hatte.

Der Sachverhalt an sich ist unbestritten. Schon die Vorinstanz stellte den nichtschaffhausischen Wohnsitz fest, ohne allerdings die Wahl für ungültig zu erklären. Darin sieht das oberste Gericht in Lausanne nun offenkundig einen Fehler, den es hiermit korrigiert. Die Rechtslage ist eindeutig: Wer sich als Ständerat wählen lassen will, als hoher Vertreter des Kantons Schaffhausen, muss zum Zeitpunkt der Wahl im Kanton Schaffhausen leben und nicht in einem anderen Kanton.

Man mag die Bestimmung falsch finden, aber anders, als die Medien und der Abgesetzte jetzt unterstellen wollen, ist das Lausanner Urteil kein Moralverdikt, kein Ausfluss altmodischer Abneigungen gegen «moderne», «flexible» Familienmodelle. Die Bundesrichter haben einfach die Kantonsverfassung so angewendet, wie sie es für geboten erachten. Die Wahl muss nun wiederholt werden, am 29. Mai. Stocker darf nochmals antreten, seine Chancen gelten als intakt.

Haben die Bundesrichter ihr Mandat überspannt? Wohl kaum. Die Rechtslage ist so eindeutig, dass man sich eher fragt, warum die Schaffhauser Gerichte den Ständerat mit Wohnsitz Zürich damit erstinstanzlich haben durchkommen lassen. Anscheinend hatte Stocker neben seinem Zürcher Hauptquartier noch einen Schaffhauser Zweitwohnsitz, eine Art Briefkastenexistenz. Wollte er die Wähler irreführen? Ist der, der sich jetzt als Opfer sieht, am Ende ein Betrüger? Das wäre einmal auch zu fragen.

In seiner Sendung «Teleblocher» gab der frühere Justizminister Christoph Blocher kritisch zu bedenken, Politiker hätten die Neigung, sich über Recht und Verfassung hinwegzusetzen, während jedem Parksünder oder säumigen Steuerzahler keinerlei Pardon gegeben wird. Auch im Bundeshaus ist es Mode geworden, Volksentscheide, Verfassungsartikel, die einigen Politikern nicht passen, aber vom Volk, dem Souverän, verfügt wurden, einfach auszuhebeln – Stichwort Masseneinwanderung.

Gelten für Politiker andere Gesetze? Oder werden die Gerichte von Politikern zusehends für ihre Zwecke «instrumentalisiert», missbraucht? Das ist die Frage, die jetzt nach dem harten Urteil eines französischen Gerichts gegen die französische Oppositionsführerin Marine Le Pen heftig diskutiert wird. Das Verdikt vom Montag ist eine politische Atombombe. Es verfügt, dass die aussichtsreiche Präsidentschaftsanwärterin endgültig ausgeschlossen wird von einer Teilnahme an den nächsten Wahlen 2027.

Der Fall ist weit komplizierter als das Wohnsitzdurcheinander von Schaffhausen. Die Richter werfen Le Pen vor, sie habe von 2004 bis 2016 ein betrügerisches System der Veruntreuung von EU-Geldern betrieben. Anstatt die über vier Millionen Euro für Mitarbeiter des Europaparlaments zu verwenden, habe sie die Unterstützung für die nationale Politik missbraucht. Die Chefin des Rassemblement national kann wohl Berufung einlegen, aber der Wahlausschluss lässt sich damit nicht aufschieben.

Ob es sich hierbei um ein Fehlurteil handelt, um politische Justiz, müssen höhere Instanzen klären. Jedenfalls sind die Medien voller Beispiele, in denen die französische Justiz mit Politikern des Justemilieu weit gnädiger verfuhr als mit der Kämpferin der rechten Opposition. Die heutige Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, wurde in einem Korruptionsfall 2016 verurteilt, aber nicht bestraft, dies mit der abenteuerlichen Begründung ihrer «Persönlichkeit», ihres «internationalen Ansehens».

François Bayrou, Chef der Zentrumspartei MoDem, jetzt Premierminister in der Regierung Macron, geriet 2019 ebenfalls in Verdacht der Scheinbeschäftigung von EU-Parlamentsmitarbeitern. Doch im Unterschied zu Le Pen sprachen ihn die Richter frei. Von einem Verlust des passiven Wahlrechts war nie die Rede. Zahlreiche Kommentatoren, darunter prominente Gegner von Le Pen, protestieren deshalb gegen das jüngste Urteil. Die Frage der Präsidentschaft solle an der Urne, nicht vor Gericht entschieden werden.

Und tatsächlich: Ist es vernünftig, wenn Richter eine prominente, beliebte, von Millionen Bürgern geschätzte Politikerin, gar eine mögliche Staats-Präsidentin, einfach aus der Politik rausschmeissen, ihr das Wahlrecht endgültig entziehen können? In Rumänien hat dies das oberste Gericht ebenfalls getan, sogar rückwirkend, indem es den Wahlgewinner und Präsidentschaftsfavoriten disqualifizierte und jetzt auch sperrte, weil bei seiner Wahl angeblich «russische Desinformation» im Spiel war.

Die Frage ist berechtigt, ob sich unter dem Einfluss solcher massiven Eingriffe der Justiz in die Politik der demokratische Rechtsstaat allmählich in einen autokratischen Richterstaat verwandelt. Man muss sich die Frage stellen, ob der Entzug des passiven Wahlrechts eine zu harte Strafe darstellt, eine zu grosse Verlockung, unliebsame Politiker nicht demokratisch, sondern juristisch aus dem Weg zu räumen. Auch in den USA hatte man versucht, den heutigen Präsidenten Trump gerichtlich auszubremsen.

Ja, die Gesetze gelten für alle. Aber es ist unverhältnismässig, wenn Richter darüber entscheiden, wer Präsident werden darf und wer nicht. Sie stellen sich damit über die Demokratie. Was spricht dagegen, wenn ein wegen Veruntreuung rechtskräftig Verurteilter sich einer Wahl stellt? Möge das Volk entscheiden. Für Marine Le Pen ist das alles eine Tragödie, aber vielleicht hilft ihr Fall, eine Justiz wieder einzurenken, die jetzt, nicht nur in Frankreich, im Verdacht steht, sich politischen Interessen auszuliefern.