Lima

Sie wirkt kühl und asketisch, spricht überlegt und zurückhaltend, scheut die grossen Gesten – Claudia Sheinbaum, 61, Physikerin, verkörpert so ziemlich in allem das Gegenteil ihres Vorgängers, des Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador (kurz Amlo). Doch in Mexiko sind die Dinge selten, wie sie scheinen. Tatsache ist, dass die Tochter jüdischer Emigranten aus Osteuropa mit aschkenasischen wie sephardischen Wurzeln die Wunschkandidatin des allmächtigen Amlo war. Und anders als ihr in ideologischen Belangen launenhafter Vorgänger gilt sie als stramm progressive Linke.

Sheinbaums überwältigender Sieg (gegen 60 Prozent Stimmenanteil) lässt keinen Raum für Zweifel. Zum Teil lag es an ihrer schwachen Gegnerin Xóchitel Gálvez. Die in sich zerstrittene Opposition wollte oder konnte keine echte Alternative anbieten. Als Bürgermeisterin von Mexico City hatte Sheinbaum einen guten Job gemacht, den öffentlichen Verkehr (Radwege inklusive) merklich ausgebaut. Vor allem wurde sie bislang mit keinem Korruptionsskandal in Verbindung gebracht, was in dieser Weltgegend schon eine beachtliche Leistung ist.

 

Umarmungen statt Kugeln

Zugute kam Claudia Sheinbaum auch, dass die mexikanische Wirtschaft seit zwei Jahren brummt. Bei aller klassenkämpferischen Rhetorik: Mexikos fünf reichste Familien haben unter dem linken Regime ihr Vermögen vermehrt wie nie zuvor (um satte 79 Milliarden Dollar gemäss Bloomberg). Das dürfte allerdings kaum das Verdienst von Amlo sein. Die mexikanische Industrie hat von den Spannungen zwischen den USA und China gewaltig profitiert. Sanktionen gegen Russland, Kuba, Venezuela oder den Iran waren derweil für Mexiko nie ein Thema. Im Gegenteil. Potentaten wie Nicolás Maduro, Miguel Díaz-Canel oder Evo Morales empfing Amlo stets mit offenen Armen. Um den korrupten Putschisten Pedro Castillo und den rechtskräftig verurteilten Gangster Jorge Glas zu schützen, nahm er diplomatische Krisen mit Peru und Ecuador in Kauf.

Die mexikanische Industrie hat von den Spannungen zwischen den USA und China gewaltig profitiert.Eine direkte Verbindung zu den Drogenkartellen konnte man Amlo zwar nie nachweisen. Tatsache ist, dass er die Mörderbanden unter dem Motto «Abrazos, no balazos» (Umarmungen statt Kugeln) recht ungeniert gewähren liess. Ein unerklärlicher Anstieg sogenannter remesas (Überweisungen von Emigranten aus den USA in ihre Heimat) deutet auf einen blühenden Drogenhandel hin. Doch die Friedens-Schalmeien dämmten das Blutvergiessen nicht ein. Mit über fünfzig Mordanschlägen auf Kandidaten bei den aktuellen allgemeinen Wahlen wurde ein neuer Rekord erreicht.

Alles andere als nachhaltig war auch die Energiepolitik von Amlo, der auf den Klimawandel pfeift. Tatsächlich hat Mexiko mit einer Armutsquote von über 40 Prozent andere Sorgen. Doch statt die Schatullen des Staates mit Petrodollars zu äufnen, generiert der durch und durch korrupte staatliche Erdölriese Pemex Milliardenverluste. Eine Privatisierung ist tabu. Und sie ist auch nicht von Claudia Sheinbaum zu erwarten, die von Alternativenergien schwärmt und auf diesem Gebiet doktoriert hat.

 

Amlos «Plan C»

Der Linksrutsch liess den mexikanischen Peso und die Börsenkurse vorübergehend in den Keller sausen. Mit dem Versprechen, die Unabhängigkeit der Zentralbank und die Budgetdisziplin um jeden Preis zu wahren, gelang es Sheinbaum zwar im Verlauf der letzten Woche, die Märkte etwas zu besänftigen. Sie ist mit dem erfahrenen Banker Jesús María Tarriba verheiratet, einem Risikomanager beim Banco de México, was den einen oder andern beruhigen mag. Zumindest beim neuen «First Man» dürfte das finanztechnische Know-how vorhanden sein.

Doch es ist nicht so sehr die neue Präsidentin, welche die Wirtschaft erzittern lässt, sondern eine voraussichtliche absolute Mehrheit des Linksbündnisses sowohl im Repräsentantenhaus wie im Senat. Mit über 75 Prozent der Stimmen in beiden Kammern kann diese Koalition die Verfassung ändern. Und das ist es, was Amlo mit seinem sogenannten Plan C androht: von Verstaatlichungen über Renten für alle und einer Verpolitisierung der Justiz bis zu einem Fracking- und Tagbauverbot – das volle rot-grüne Programm. Eine Eigenheit des mexikanischen Systems will es, dass das neue Parlament im September einen Monat vor der neuen Regierung antritt. Amlo, so die Befürchtungen, könnte dieses Zeitfenster für einen Verfassungscoup nutzen. Zuzutrauen wäre es ihm.