Vermutlich, hoffentlich kommt es dann doch nicht so schlimm, wie manche jetzt befürchten, doch die Europäische Union in ihrer heutigen Verfassung kann einem schon Angst machen. Das Brüsseler Konstrukt nimmt zusehends autoritäre, imperiale Züge an. Wir sehen es in Rumänien, in Ungarn, in Serbien, überall dort, wo demokratisch regierte Staaten unter Druck geraten, wohl einfach nur deshalb, weil sie sich weigern, nach der Melodie der Eurokraten zu marschieren. Demokratisch erlaubt ist, was Brüssel dient? Es sieht so aus. Das haben auch schon Polen und Tschechien unter konservativen Regierungen erfahren müssen.

Nimmt man etwas Abstand, zeigt sich hier womöglich ein Aufeinanderprallen unterschiedlicher politischer Ordnungsvorstellungen. Brüssel möchte eine möglichst harmonisierte, «unifizierte», zentral regierte Europäische Union. Das ist die alte Vision Frankreichs, gegen die früher jeweils die Briten und etwas weniger dezidiert, wenn auch ebenso überzeugt, die föderalistischen Deutschen standen. Seit dem Brexit sind die Zentralisten auf dem Vormarsch, obwohl eine Deutsche, Ursula von der Leyen, die EU-Kommission nicht nur führt, sondern auf Kosten der Mitgliedstaaten immer mehr Macht an sich zu reissen scheint.

Den EU-Zentralisten gegenüber stehen die EU-«Souveränisten», die Verfechter einer Aufwertung des Nationalstaats in der Europäischen Union. Sie fordern mehr Eigenverantwortung, mehr Spielraum. Das ist sichtbar geworden besonders während der Flüchtlingskrise und dann im Ukraine-Krieg. Die Eurokraten und auch die meisten Medien sehen darin einen Angriff auf alles, was sie mit der europäischen Idee verbinden. Die «Patrioten», wie sie sich selber nennen, sehen sich hingegen als Gralshüter eines anderen, wahren Europas der kulturellen Vielfalt, der nationalen Identität und verknüpft damit der konservativen Werte gegen Brüssels Progressiv-Ideologie.

Im Moment sind die Konservativen auf dem Vormarsch, angeführt von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, diesem wandelnden Widerstandsbollwerk gegen das «Regenbogen-Imperium», als das er die EU auch schon bezeichnet hat. Um ihn scharen sich, zusätzlich motiviert durch die Unterstützung der neuen Administration in Washington, die Euro-Rebellen, noch belächelt und heruntergespielt als Desperados und «Populisten». Doch sie legen zu, auch in Deutschland und Frankreich. Das alte Zentrum wackelt, und vieles deutet darauf hin, dass der frühere Aussenseiter Orbán bald so etwas wie den europäischen Mainstream, die neue EU-Mitte verkörpern dürfte.

Die Ansage der Kritiker ist deutlich: Sie wollen die EU reformieren, am liebsten mit, notfalls gegen Brüssel. In US-Präsident Donald Trump und dessen Partner Elon Musk haben sie mächtige Verbündete. Natürlich geben die alten Eliten die Macht nicht freiwillig ab. Brüssels Interventionen in Rumänien, der Druck auf renitente Länder wie Österreich, Serbien, Slowakei, Kaczynski-Polen oder eben Ungarn sind der zusehends verzweifelte Versuch, die Widerständler abzuwehren. Allein, es fruchtet nicht. Selbst in der traditionell brüsseltreuen Bundesrepublik ist eine Partei, die offen über den EU-Austritt nachdenkt, inzwischen zweitstärkste Kraft.

In der EU tobt ein Richtungsstreit. Es ist nicht klar, wohin sich dieser Verbund entwickelt. Immer schon gab es gewisse Vorbehalte gegen das Brüsseler «Konstrukt», doch die Debatten wirkten etwas akademisch angesichts der berauschenden wirtschaftlichen Erfolge. Das allerdings hat sich drastisch geändert. Die EU ist auch für die Deutschen keine sichere Bank mehr, sondern ein Problemherd, Massenmigration, explodierende Energiepreise, Wirtschaftskrise, der Endlos-Krieg in der Ukraine. Mit dem Wort Europa lassen sich die Massen nicht mehr beglücken, umso weniger, als die Eurokraten auf jedes Problem nur eine Antwort wissen: mehr Europa!

Als Schweizer sollte man sich das alles sehr genau anschauen vor dem Hintergrund der Pläne, unser Land an diesen wankenden Riesen anzudocken. Rhetorik und Realität klaffen in Europa immer krasser auseinander. Derzeit schwingt sich eine merkwürdige «Koalition der Willigen» auf, um den britischen Premier Keir Starmer und Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, betört von eigenen Kreuzzugsfantasien gegen das Böse, das man im Kreml verortet, die Friedensverhandlungen der Amerikaner und der Russen zu durchkreuzen. Gleichzeitig macht man Front gegen Washington und Moskau. Kommt das gut? Ist es nur Pose? Tun als ob?

Unheimlich fühlte sich diese Woche die Bundestagsdebatte zur massiven Erhöhung der Schulden an. Deutsche Medien nennen es die teuerste Regierungsbildung aller Zeiten. An den Summen allein, gegen tausend Milliarden, lässt sich ermessen, wie sehr Friedrich Merz unbedingt, ohne Rücksicht auf bis vor kurzem geäusserte Überzeugungen, Kanzler werden will. Seine Rede war das düstere Plädoyer eines Politikers, der sein Land von allen Seiten bedroht sieht. Merz, der Schuldenfürst der Finsternis, redete nicht wie einer, dem die Freiheit am Herzen liegt. Seine Sätze klangen wie Drohungen, vor allem an die AfD, für ihn ein Abgrund an Undemokratie und «Desinformation».

Der Konflikt zwischen EU-Zentralisten und Freunden des Nationalstaats, der die Europäische Union insgesamt erschüttert, verläuft mitten durch Deutschland, entlang der Brandmauer von Friedrich Merz. Anstatt die Debatte offen auszutragen, versucht man sie wegzumauern, zu verhindern, zuzuschütten mit tausend Milliarden Schulden, das neue Goldene Kalb, um das die bald Regierenden jetzt tanzen. Ob ihnen die Deutschen dabei folgen werden? Man wird sich sicherheitshalber auf anhaltende politische Instabilität und intensive Auseinandersetzungen gefasst machen müssen. Das ist kurzfristig unangenehm, langfristig aber von Vorteil. Endlich wieder Demokratie.

Auf die Schweiz wird der Druck zunehmen. Die EU braucht dringend Geld. Der bisher stärkste Nettozahler, Deutschland, wird zum Staat der hohen Schulden, Zinsen und Steuern. Die Wirtschaft lahmt. Besserung ist ausser Sicht. Also wird man sich das Geld dort holen, wo es noch welches hat. Zehntausende von Deutschen stimmen jährlich mit den Füssen ab und kommen in die Schweiz. Das löst im Norden nicht nur Freude aus. Schon jetzt erheben deutsche Politiker und Diplomaten fordernd ihre Stimme. Wie stark sind die Widerstandskräfte in Bern? Auch Brüssel wird die Schrauben anziehen. Sind unsere Politiker, unsere Medien schon eingeknickt? Man wird es bald sehen. R. K.