«[. . .] und es beweist, dass die Demokratie der Westländer,
bei aller Überholtheit ihrer Institutionen durch die Zeit,
aller Verstocktheit ihres Freiheitsbegriffs
gegen das Neue und Notwendige, wesentlich doch
auf der Linie des menschlichen Fortschritts,
des guten Willens zur Vervollkommnung der Gesellschaft
liegt und der Erneuerung, Ausbesserung, Verjüngung,
der Überführung in lebensgerechtere Zustände
ihrer Natur nach fähig ist.»

Thomas Mann, «Doktor Faustus»

 

Tom Cruise macht die Show. Der amerikanische Superstar, der immer junge, der immer lächelnde Sonnenjüngling hat sie alle abgehängt: James Bond, Rocky, Rambo, Spider-Man, Captain America, Terminator, Iron Man, die Superhelden und Muskelprotze aus den Marvel-Comics.

Er ist der beste James Bond, den es je gab, eine amerikanisierte Version, Ethan Hunt, der Spezialagent auf «unmöglicher Mission», angetrieben, auf der brennenden Lunte, durch die Abenteuer gnadenlos gehetzt von Lalo Schifrins unerbittlich peitschender Titelmelodie im Fünfvierteltakt.

Der erste «Mission: Impossible», 1996 nach einer TV-Serie verfilmt von Brian De Palma, dem Physiker, dem grossen Methodiker unter Amerikas führenden Regisseuren, Drehbuch von David Koepp und Steven Zaillian, war der beste, raffinierteste Teil der Serie von mittlerweile sieben Folgen.

Die fintenreiche Handlung führt Ethan/Cruise über Prag und das CIA-Hauptquartier in Langley – mit der legendären Schwebeszene im Computerbunker, als er die Diskette mit den Agentennamen herunterlädt – bis zum TGV-Showdown im Eurotunnel zwischen Frankreich und England, in dem ihm das Rotorblatt von Jean Renos unterirdisch explodierendem Hubschrauber um ein Haar die Kehle aufschlitzt. Der Vater von Angelina Jolie, Jon Voight, unvergesslich auch als Detektiv Tschanz in der Dürrenmatt-Verfilmung «Der Richter und sein Henker», spielt den Bösewicht, den Doppelagenten und Killer mit teuflischer Stringenz.

In der alles auf den Punkt bringenden Schlüsselszene erklärt Ethan/Cruise seinem Team den Plan, wie man zu dritt ins atombombensicher abgeriegelte, eigentlich unmöglich zu knackende Hauptquartier des US-Geheimdiensts einbrechen werde. Auf die fassungslose Frage seines genialen Computer-Hackers Luther – «Und du glaubst wirklich, wir können das schaffen?» – antwortet Cruise, tiefenentspannt, Kaugummi kauend, während er sich schelmisch lächelnd zurücklehnt: «Wir werden es schaffen!» Und mitreissend, alle Restzweifel an diesem uramerikanischen Macher- und Mackertum beseitigend, stampft triumphal erneut die Titelmelodie. Ein Meilenstein unter den grossen Kinomomenten.

Amerika, seine Sagen, seine Helden inspirieren nach wie vor die ganze Welt.

Was macht Tom Cruise zum grössten Star unserer Zeit? Genau das. Er ist die strahlende, immer etwas schalkhafte Verkörperung des lockeren Gelingens, der «all-American hero», amerikanische Sehnsuchtsfigur, selbstbewusst, mit Kaugummi und Lederjacke, die unmöglichsten Dinger drehend, mit naiver, gelegentlich selbstironischer Selbstverständlichkeit die Welt rettend vor den finstersten Schurken, die den Unterhaltungslabors von Hollywood jemals entstiegen sind – eine blendend aussehende Einmannkavallerie gegen das Böse.

Tom Cruise steht für den Mythos Amerika, für das Beste, was die USA sind und was sie sein wollen. Er verkörpert ein Ideal, in dem sich in allen Teilen der Welt Millionen wiedererkennen möchten, und genau darum ist auch sein jüngster «Mission: Impossible»-Film, «Dead Reckoning, Teil eins», ein neuerlicher Riesenerfolg bezeichnenderweise in Zeiten, in denen es mit der Verwirklichung der von Cruise so lässig verkörperten amerikanischen Ideale so schmerzlich hapert.

Die Vereinigten Staaten sind, wie die Schweiz, ein Land der Mythen und der inspirierenden Heldensagen. Alle Völker kennen diese Geschichten, in denen sie sich erzählen, wer sie sind und was sie idealerweise sein wollen. Der Wilhelm Tell der Amerikaner heisst John Wayne, der bärbeissige Westernheld, katzenhaft durch monumentale Szenerien wandelnd, seine Winchester schiesst er einhändig, beiläufig aus der Hüfte, eine durch nichts zu erschütternde, reitende Unabhängigkeitserklärung.

Tom Cruise ist, seit seinem Aufstieg vor bald vierzig Jahren, der moderne John Wayne, die absolute «Top Gun» unter Amerikas Leinwandhelden. Als Action-Star löste er die archetypischen Muskelberge Stallone und Schwarzenegger ab, die den von Vietnam und Watergate verunsicherten, mit sich hadernden USA in fast schon bizarr überblähter Testosteron-Übergrösse das Gefühl der Stärke zurückgeben mussten.

Der eher kleingewachsene Cruise ist der auf körperliches Normalformat gesundgeschrumpfte Held eines Amerika, das mit sich wieder im Einklang steht, den Kalten Krieg gewinnt und unangefochten an der Spitze der Zivilisationen thront, ganz einfach deshalb, weil es die Amerikaner besser machen, die besseren Ideale haben, die besseren Filme, die bessere Musik, den besseren Staat und Helden wie Tom Cruise, die notfalls immer noch den Planeten retten können.

In der Sage stecken die tiefen Wahrheiten der Völker, und das Hollywoodkino ist die erfolgreichste Mythenfabrik der Gegenwart, weniger Fabrik, vielmehr eine gigantische weltbestrahlende Inszenierungsbühne der unwiderstehlichen amerikanischen Mythen der Freiheit, der Selbstverwirklichung, der Überwindung übermächtig scheinender Hindernisse durch den Einzelnen, wenn er nur hart genug arbeitet und niemals aufgibt.

Amerika, seine Sagen, seine Helden inspirieren nach wie vor die ganze Welt. Das zeigt der Erfolg von Tom Cruise und «Mission: Impossible». Mittlerweile 61, kann der Superstar, hochdiszipliniert, Schwerstarbeiter unter den Hollywoodgrössen, zwar immer noch jugendlich federnd und sein eigener Stuntman in halsbrecherischen Abenteuern, sein Ablaufdatum nicht mehr verbergen.

Doch das, was Tom Cruise zum Ausdruck bringt, wird seine Laufbahn überdauern. Neue Figuren werden kommen, um das Beste an Amerika zu verkörpern, dieser Abspaltung Europas, Schmelztiegel der Zivilisationen, zusammengehalten von einigen der besten europäischen Ideen, die wir wiederum von anderen Kulturen geklaut, uns gewaltsam angeeignet, aufgesogen, in der Wirklichkeit jedoch so oft missachtet haben, dass es die amerikanischen Siedler brauchte, um auf einem fernen Kontinent ein besseres Europa zu gründen, dabei allerdings auch selber immer wieder an den Idealen scheiternd, die sie für sich in Anspruch nehmen.

Nicht immer leben die Völker der Wahrheit ihrer Mythen nach. Manchmal vergessen sie, wer sie sind, entfernen sie sich von ihren Idealen. Dann ist es die Kunst, ist es das Kino, das die Mythen bewahrt, die Ideale in Erinnerung ruft für bessere Zeiten.