Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten. Luchterhand. 448 S., Fr. 33.90

Wer ist Juli Zeh? Die 1974 in Bonn geborene Bestsellerautorin und promovierte Juristin schreibt Essays, Theaterstücke und Romane, die inspiriert sind von der Aktualität und den Zeitgeist aufgreifen («Unterleuten», «Über Menschen», zuletzt gemeinsam mit Simon Urban «Zwischen Welten»). Die literarischen Motive der vielseitig engagierten Schriftstellerin sind: der Weg zum Überwachungsstaat, die zunehmend fehlende Empathie im Miteinander und die Ohnmacht und Verlorenheit des Einzelnen; die Frage nach Sinn und Moral in einer Welt, deren tradierte Werte im Verschwinden begriffen sind.

Akute Geschehnisse saugt sie auf, um sie literarisch zu transformieren. Juli Zeh beobachtet scharf und findet den Zustand der Welt gespiegelt im Mikrokosmos ihrer dörflichen Umgebung. Die doppeldeutigen Titel ihrer Romane verweisen auf die Vielschichtigkeit der Personen, die ihre Geschichten bevölkern und nie den ersten Eindruck bestätigen, der sich zunächst aufdrängt – bis man mit den eigenen Vorurteilen konfrontiert wird.

Letzter Kitt eines Wir-Gefühls

Juli Zeh lebt mit Mann und zwei Kindern seit fast zwanzig Jahren im ländlichen Brandenburg – «es war eine Flucht aus der Grossstadt mit all den täglichen Anforderungen» – und wurde 2019 zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes berufen. Da, wo sie Unrecht wittert und Persönlichkeitsrechte eingeschränkt sieht, mischt sie sich ein; das betraf etwa die Eingriffe in die Grundrechte während der Corona-Pandemie 2020.

Zuletzt geriet sie in Misskredit als eine von 28 Erstunterzeichnern des am 29. April 2022 auf der Website der Zeitschrift Emma veröffentlichten offenen Briefs an Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Appell, der Ukraine nicht noch mehr schwere Waffen zur Verteidigung zu liefern.

Zu ihrer Haltung steht sie, trotz heftiger Medienkritik. Beim Polit-Talk des Magazins Spiegel vom September 2022 erlebt man im Video eine selbstbewusste, kaum geschminkte Frau, die mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen entspannt konzentriert und mit souveräner Zurückhaltung die Fragen ihres Gegenübers, des Journalisten Markus Feldenkirchen, kontert und klug ihre Position vertritt: «Ich glaube nicht, dass Russland sich militärisch besiegen lässt.»

Ähnlich dezidiert reagiert sie auf die jüngsten Vorwürfe gegen ihren soeben erschienenen Whatsapp- und E-Mail-Roman «Zwischen Welten», den sie gemeinsam mit Simon Urban geschrieben hat. Er thematisiert alle gegenwärtigen Strömungen, vom Gendern über Rassismus, Feminismus, Klimakatastrophe bis zu toxischem Machtgebaren (das nicht ausschliesslich Männern vorbehalten ist). Hier kristallisiert sich eines ihrer Hauptthemen heraus: die weitgehend abhandengekommene Fähigkeit der Menschen, andere Meinungen gelten zu lassen und miteinander zu diskutieren.

Seit der Flüchtlingskrise 2015, auf die Corona und der Krieg in der Ukraine folgten, tun sich tiefe Gräben auf innerhalb von Familien und Freundeskreisen. Wer nicht der (von wem?) vorgegebenen Mehrheitsmeinung zustimmt, wird in Schubladen gesteckt und nicht mehr zum Dialog zugelassen.

Im Berliner Tagesspiegel vom Januar 2023 verweist Juli Zeh auf die nicht mehr vorhandenen Gruppen, die früher identitätsstiftend wirkten, wie die 68er, Hippies, New Wavers oder Punks: «Vielleicht haben die aggressiver werdenden Lagerkämpfe auch gerade damit zu tun, dass es solche Gruppen nicht mehr gibt. Wir beharren deswegen umso mehr auf Übereinstimmung – darauf, dass wir alle einer Meinung sein müssen. Nach dem Motto: Das ist der letzte Kitt, der noch ein Wir-Gefühl herstellen kann. Religionen sind weitgehend beiseitegeschoben, familiäre Zusammenhalte weniger stark, und weder links noch rechts taugen als Unterscheidungen.»

Mit dem Respekt vor der Meinung Andersdenkender ist die Autorin in ihrer diskussionsfreudigen Familie aufgewachsen, ihr Vater ist der ehemalige Direktor beim Deutschen Bundestag, Wolfgang Zeh. Juli Zeh studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Völkerrecht in Passau, Krakau, New York und Leipzig, arbeitete bei der Uno in New York, ist Mitglied der SPD und gehört zu den Initiatoren der Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union von 2016.

«Stille ist ein Geräusch»

2001 reiste sie alleine, nur mit ihrem Hund als Begleiter, nach Bosnien und Herzegowina und erfuhr die tiefe Verstörung der Menschen angesichts der Tatsache, dass sich die europäische Gemeinschaft nicht für deren Leid in dem zerstörten Land interessierte. In dem 2002 veröffentlichten Reisetagebuch «Die Stille ist ein Geräusch» verarbeitet sie das Erlebte.

Juli Zeh ist eine komplexe, meinungsstarke und Widerspruch provozierende Persönlichkeit, deren vielgestaltige Interessen sich in ihren Werken niederschlagen. Und sie ist bei aller Ernsthaftigkeit eine sehr unterhaltsame Schriftstellerin.