Pasir Ris Park, Singapur

Die Holzplatten quietschen unter unseren Schritten, als wir uns durch den feuchten Wald schlängeln, nur mit ein paar Taschenlampen ausgestattet, um uns in der tropischen Nacht zurechtzufinden. Unter uns wimmelt es im Mangrovenwald nur so von Schlammhummern, Kletterkrabben und Wasserschlangen, die nach der sengenden Sonne auf Nahrungssuche gehen. Ein Waran schläft auf einem nahen Baumstamm, während um uns herum in den Baumkronen Eulen zu hören sind.

Plötzlich beleuchtet die Taschenlampe eine dünne, grün gefärbte orientalische Peitschennatter, die sich unter dem Laub tarnt. Ein paar Schritte weiter versteckt sich eine giftige Kreuzotter unter einem Ast und wartet geduldig auf ein kleines Nagetier als Beute. Unsere kleine Gruppe – ein buntgemischter Haufen aus Familien mit Kindern, jungen Paaren und ein paar Naturliebhabern – versammelt sich um unsere Führerin und starrt ehrfürchtig auf die Reptilien, während sie geduldig ihre Gewohnheiten, Ernährungsgewohnheiten und Lebensräume aufzählt. Der Schauplatz könnte ein wilder Dschungel sein, aber in Wirklichkeit befinden wir uns in einem Stadtpark am Rande von Singapur, einem der geschäftigsten Finanzzentren der Welt und dem am zweitdichtesten besiedelten Land unserer Erde. Das Wildnisabenteuer wurde von The Untamed Paths organisiert, einer Naturorganisation, die den Einheimischen hilft, den Reichtum der biologischen Vielfalt der Stadt zu entdecken, die das stolze Ergebnis eines visionären Plans ist, den Singapur in den letzten sechzig Jahren entwickelt hat.

Die als «Stadt in der Natur» bezeichnete Umweltstrategie Singapurs ist ein geschickter Mix aus Begrünungsprogrammen, Stadtplanung, innovativer Architektur, Umwelterziehung und Bürgerbeteiligung, der weltweit seinesgleichen sucht. Ihr visionäres Ziel ist es, eine neue Lebensrealität zu schaffen, in der städtische und natürliche Räume nicht nur nebeneinander existieren, sondern miteinander verschmelzen. «Bei der ehrgeizigen Idee von Singapur geht es nicht nur darum, Bäume zu pflanzen», erklärt Anuj Jain, ein lokaler Ökologe und Ingenieur, dessen Start-up naturbasierte Lösungen für die Stadtgestaltung anwendet. «Es geht darum, die Denkweise zu ändern und zu verstehen, wie wir in einer Stadt mit dichter Natur und gleichzeitigem Entwicklungsdruck leben können.»

 

Mehr als Bäume pflanzen

Im heutigen Singapur teilen sich über sechs Millionen Menschen eine Landfläche, die kleiner ist als die von New York, mit über 600 Arten von Säugetieren, Vögeln, Reptilien und Amphibien, fast 1200 Arten von Gefässpflanzen und einem Viertel aller Korallenarten der Welt. Der Stadtstaat, der zu 46 Prozent von Grünflächen bedeckt ist, beherbergt eine beeindruckende Anzahl von primären und sekundären Tropenwäldern, Naturreservaten und Parks, die zu lebenden Zufluchtsorten für weltweit vom Aussterben bedrohte Tiere wie das Sunda-Schuppentier, den Raffles Bindenlangur (eine Primatenart) und den Strohkopfbullen geworden sind. Die Erfolge Singapurs sind so bemerkenswert, dass der 2008 eingeführte Biodiversitätsindex, der als Rahmen für die Bewertung und Überwachung von Naturschutzbemühungen in städtischen Zentren dient, von über vierzig Städten weltweit übernommen wurde, darunter New York, Paris, Amsterdam, Hongkong und Mexiko-Stadt.

 

Selbsternannte «Gartenstadt»

Als Singapur 1965 unabhängig wurde, hätte niemand dieses Ergebnis vorausgesehen. Fast 150 Jahre lang war die Stadt britische Kolonie und Militärstützpunkt gewesen, und mehr als 95 Prozent des Landes waren gerodet worden, um Platz für kommerzielle Anbaupflanzen wie Pfeffer und Kautschuk zu schaffen. Abgesehen von den botanischen Gärten und einigen für den Anbau ungeeigneten Primärwäldern blieb von der ursprünglichen Flora und Fauna wenig übrig. Doch Premierminister Lee Kuan Yew, der Gründervater Singapurs, erkannte, dass die Natur eine entscheidende Rolle bei der Aufwertung und Förderung der Stadt spielen konnte. «Das Pflanzen von Bäumen war Teil eines grösseren Plans, die Psychologie des Lebens in einem städtischen Raum zu verbessern und glückliche Bürger und Arbeiter zu schaffen», erklärt Timothy Barnard, ausserordentlicher Professor für Umweltgeschichte an der National University of Singapore.

Damals bezeichnete sich Singapur selbst als «Gartenstadt», ein gepflegter, angenehmer städtischer Raum, der dazu beitrug, die Stadt für Einheimische, Auswanderer und ausländische Investoren attraktiver zu machen. Im Laufe der Zeit nahmen die Grünflächen dank massiver Baumpflanzungen und Wiederaufforstungsmassnahmen, der Eröffnung neuer Parks und der sorgfältigen Erhaltung dessen, was von den ursprünglichen Wäldern Singapurs übriggeblieben war, drastisch zu. Seltene und vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten wie verschiedene Orchideen- und Ingwerarten, der Sambarhirsch und die Leopardenkatze wurden nach und nach wieder angesiedelt. «Die Entwicklung von der Gartenstadt zur Stadt in der Natur ist der richtige Ausdruck unseres Verständnisses für die Vorteile der Natur», erklärt Lim Liang Jim, Gruppendirektor für Naturschutz bei National Parks, Singapurs Umweltbehörde.

Mit der Zeit entwickelte sich der Grünplan Singapurs dahingehend, dass Naturräume als lebendige Elemente betrachtet werden, die für die Zukunft der Stadt und das langfristige Wohlergehen der Menschen unverzichtbar sind. Heute sind die 350 Naturschutzgebiete und Parks Singapurs alle durch ein 300 Kilometer langes Netz von grünen Korridoren miteinander verbunden. «Die Vernetzung ermutigt Tiere, die Pflanzen bestäuben und Samen verbreiten, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen und so die Grünflächen auf natürliche und organische Weise zu verbessern», so Lim weiter. «Das ist ein positiver Kreislauf, der die Genetik von Tieren und Pflanzen verbessert und die Natur vielfältiger und stärker macht.» Sogar die Bepflanzung der Strassenränder wurde so verändert, dass sie die Schichten eines Waldes nachahmt, mit vier verschiedenen Schichten von hohen Bäumen, Baumkronen, Sträuchern und Bodendeckern, also niedrigwachsenden Pflanzen. «Auf diese Weise finden verschiedene Tiere ihren eigenen ökologischen Raum», so Lim weiter. «Man kann Eichhörnchen in der Baumkrone und Nashornvögel obendrauf haben.»

Die Vision ist es, die Natur ganzheitlich zu behandeln und Singapurs repräsentativere Flora und Fauna zu schützen, indem man sich um Insekten und Bestäuber an der Basis der Nahrungskette kümmert, wie Bienen und Schmetterlinge. «Wenn man keine Schmetterlinge sieht, stimmt etwas mit der Umwelt nicht», erklärt Khew Sin Khoon, der Geschäftsführer eines renommierten lokalen Architekturbüros. Singapur hat die Natur nicht nur allgegenwärtig und leicht zugänglich gemacht, sondern auch zu einem Teil des täglichen Lebens eines jeden. Das Ergebnis ist eine Utopie auf der Erde, die neue, aufregende Perspektiven für einen Planeten eröffnen könnte, auf dem bereits mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Nur fünf Gehminuten von einem der belebtesten Stadtteile Singapurs entfernt ist man in einem tropischen Wald von Makaken und Colugos umgeben, und abends werden die Wiesen der Jurong Lake Gardens von Libellen in allen Farben und Formen überschwemmt, während die Orchard Road, Singapurs Haupteinkaufsstrasse, einen Schmetterlingspfad beherbergt und zuweilen zu einem Hotspot für Zugvögel wird.

 

Schaffen einer Naturkompetenz

Singapurs einzigartige tropische Architektur rühmt sich mit Gebäuden, die Regenwasser-Recycling-Systeme nutzen, die dem Design von Ameisenhügeln nachempfunden sind, mit porösen Strukturen, welche die natürliche Belüftung nutzen, um die Klimatisierung zu reduzieren, und mit Krankenhäusern, die sich in Parks einfügen, um die therapeutischen Eigenschaften des Grüns zu nutzen. Das dichte Labyrinth aus Kletterpflanzen, das das «Oasia Hotel» bedeckt, ist zu einem Nistplatz für Geier und Adler geworden. «Wir bauen eine Art ökologisches Paradies», erklärt Richard Hassell, der Mitbegründer von Woha, einem lokalen Architekturbüro, das hinter dem Oasia-Projekt steht. «Wenn man erst einmal die Präsenz von Pflanzen etabliert hat, kann die Natur in so viele Richtungen gehen.»

Die Einbindung der Natur in die Stadt macht Singapur auch widerstandsfähiger gegen den Klimawandel. Die Vernetzung von Grünflächen hat natürliche Gebiete in Superorganismen mit einem Eigenleben verwandelt, die der Stadt unschätzbare ökosystemische Funktionen bieten, von der Wasser- und Luftreinigung über den Schutz vor Dürre und Überschwemmungen bis hin zur Regulierung des Mikroklimas. «Je grösser und vernetzter die Grünflächen sind, desto grösser ist der Unterschied in Bezug auf die Temperatur», erklärt Winston Chow, Professor für Stadtklima am College of Integrative Studies der Singapore Management University und Hauptverantwortlicher für das Projekt Cooling Singapore. «Die Kühlung, die auf der Mikroebene stattfindet, breitet sich durch die Baumnetze auf die Nachbarschaft und die städtischen Gebiete aus und maximiert so ihr Potenzial.»

Das Mangrovenaufforstungsprogramm Singapurs schafft Pufferzonen an der Küste, welche die Stadt vor dem steigenden Meeresspiegel schützen. Ehemalige betonierte Wasserkanäle wurden renaturiert und in Teiche und Flüsse umgewandelt, die als Wasserspeicher fungieren, die Artenvielfalt in der Stadt erhöhen und nahegelegene Gebäude vor Überschwemmungen schützen.

Während Singapur seinen Weg zu einer modernen Version der Hängenden Gärten des alten Babylons fortsetzt, fördert sein Erfolg einen Perspektivenwechsel in Bezug auf unsere Beziehung zur Natur und unsere Vorstellung von städtischen Räumen. «Für viele Menschen sind architektonische Städte Orte, an denen der Mensch eine andere Welt als die Natur geschaffen hat», sagt Architekt Hassell. «Wir müssen die Natur zurück in die Städte bringen und eine Naturkompetenz schaffen, damit sich die Menschen für sie interessieren und engagieren.»

Anfangs standen die Singapurer den grünen Plänen der Stadt nur lauwarm gegenüber. Inzwischen hat sich die öffentliche Stimmung in den Jahren nach der Pandemie deutlich verbessert: Ein Grossteil des landesweiten Pflanzprogramms «One Million Trees», das bis 2030 laufen soll und bereits zu 70 Prozent abgeschlossen ist, wird von Freiwilligen durchgeführt. Die Folgen der Stadt in der Natur haben das tägliche Leben der Menschen so stark verändert, dass es zur neuen Normalität geworden ist, einen Platz am See mit einer Horde Otter zu teilen oder beim Joggen im Park Wildschweinen zu begegnen. Dies hat auch zu gelegentlichen Konflikten geführt, aber für Lim besteht die Lösung darin, die Menschen zu erziehen, anstatt zu versuchen, die Natur zu kontrollieren: «Wir müssen ihnen begreiflich machen, dass wir das alles nicht aufgeben können.»

 

Matteo Fagotto ist ein italienischer Journalist, Schriftsteller und Podcast-Produzent. Gemeinsam mit Matilde Gattoni produziert er Fotoreportagen.