Die direkte Demokratie läuft nach anderen Gesetzen ab als ihr parlamentarisches Pendant. Sie ist stärker nach innen gewandt, auf die akuten Interessen seiner Bürger bezogen. Das wirkt sich auch auf die Aussenpolitik aus. Diese ist im Allgemeinen eher marginalisiert und wenig ambitiös. In der direkten Demokratie hegt man kaum aussenpolitische Machtaspirationen. Man kümmert sich vornehmlich um das, was vor der eigenen Haustür liegt.

Aussenpolitik ist in erster Linie dazu da, um das Gedeihen des eigenen Landes unter möglichst ungestörten Verhältnissen zu ermöglichen, um die Machtgelüste ausländischer Kräfte abzuwehren. Sie flankiert die Innenpolitik. So war es in Athen, so ist es in der Schweiz. Den geeignetsten Ausdruck findet diese Art von Aussenpolitik in der Neutralität. Diese bildet denn auch den zweiten Pfeiler des Sonderfalls Schweiz.

Gewiss, Aussenpolitik ist auch in der Schweiz mehr als nur Neutralitätspolitik. Viele Bereiche der auswärtigen Beziehungen haben nichts mit Neutralität zu tun. Sie sind, so könnte man sagen, neutralitätsneutral. Aber die Neutralität ist mit Abstand der wichtigste Grundsatz der eidgenössischen Aussenpolitik. Sie ist die Richtschnur in den grossen aussenpolitischen Fragen. Über die Jahrhunderte hinweg hat die Schweiz daran festgehalten – und das Ausland hat die Eidgenossenschaft daran gemessen. [. . .]

Ratschläge des weisen Einsiedlers

Wann die Schweiz die Neutralität zum ersten Mal offiziell als Staatsmaxime proklamierte, lässt sich gut nachweisen. Es war im Jahr 1674, als die Tagsatzung die Eidgenossenschaft «bei gegenwertiger gefahrlicher Coniuncturen» für neutral erklärte. Der erste Historiker der Schweizer Neutralität, der Zürcher Archivar und Professor Paul Schweizer, fixierte dieses Datum. Und Edgar Bonjour stimmte mit ihm überein. Im ersten Satz seiner mehrbändigen Geschichte der schweizerischen Neutralität hält auch er diese Jahreszahl fest.

Der Altmeister der Schweizer Neutralitätsgeschichte gibt indes auch zu bedenken, dass die Neutralität oder das «Stillesitzen» von Anbeginn der Eidgenossenschaft eine oft eingenommene Haltung war. Nach der bitteren Niederlage von Marignano (1515) entschied man sich in aussenpolitisch schwierigen Situationen immer mehr für die Neutralität, insbesondere im Dreissigjährigen Krieg. Aber es war noch keine prinzipielle Haltung. Man nahm sie lediglich ein, wenn die politische Lage es ratsam erscheinen liess.

Zwischen einer gelegentlich eingeschlagenen Neutralitätspolitik und der Etablierung der Neutralität als dem grundlegenden Prinzip der Schweizer Aussenpolitik liegt allerdings ein langer Weg. Die in einzelnen Situationen gesammelten Erfahrungen verdichteten sich erst allmählich zu einem Grundsatz, der, ungeachtet der politischen Konstellationen, prinzipielle Gültigkeit beanspruchte. Eine herausragende Rolle bei der Verdichtung zum wichtigsten aussenpolitischen Prinzip kommt dabei Niklaus von Flüe zu. Der weise Einsiedler gab den Eidgenossen die folgenden beiden Ratschläge: «Mischt Euch nicht in fremde Händel» und «Macht den Zaun nicht zu weit». Übersetzt in eine abstraktere Sprache, enthalten diese Mahnungen den Kern der immerwährenden Neutralität, nämlich die Verpflichtungen, erstens sich an keinem Krieg zwischen Dritten zu beteiligen und zweitens selbst keinen Krieg auszulösen. Diese Botschaft wurde schon damals in ihrer vollen Tragweite verstanden, wie die Diskussionen um den Weg der Eidgenossenschaft nach der Schlacht von Marignano zeigen.

Helvetische Sternstunde

Die Worte von Bruder Klaus hallten stark nach. Protestanten und Katholiken verehrten ihn gleichermassen als religiöse und patriotische Autorität die ganze Neuzeit hindurch. Der Zürcher Johann Heinrich Füssli, Professor für vaterländische Geschichte und ein führendes Mitglied der Helvetischen Gesellschaft, rief seinen Landsleuten 1782 in Erinnerung, dass die ewig währende Neutralität der Eidgenossenschaft im Interesse Europas liege, und riet, die vom «heiligen Eremiten von Flüe» empfohlene Neutralität zur «Staatsmaxime» zu erheben.

Wie alles Vernünftige ist auch die Neutralität mit Mass und Bedacht zu handhaben.

Im 20. Jahrhundert liess sich Max Huber, der grosse Völkerrechtler und nachmalige IKRK-Präsident, von Bruder Klaus inspirieren. Auch sein bevorzugter Mitarbeiter, der Diplomat Paul Ruegger, der ihm an der Spitze des IKRK nachfolgen sollte, verehrte den Schweizer Landesheiligen als herausragenden Vermittler und Spiritus Rector der Schweizer Neutralität.

Was Füssli forderte, sollte sich eine Generation später erfüllen. Nach den Napoleonischen Kriegen wurde die Schweiz ein permanent neutraler Staat mit völkerrechtlichem Status. Die Schweiz erhob ihre Neutralität nicht nur zur Staatsmaxime. In einer helvetischen Sternstunde gelang es dem Gesandten Charles Pictet de Rochemont auf dem Wiener Kongress, auch die völkerrechtliche Anerkennung der Neutralität in vollem Umfang für die Schweiz zu erreichen, so wie ihn die Tagsatzung instruiert hatte: als «base de son indépendance politique et de sa sûreté militaire».

Am 20. November 1815 erklärten die damaligen Grossmächte, «dass die Neutralität und die Unverletzbarkeit der Schweiz sowie ihre Unabhängigkeit von allen äussern Einflüssen im wahren Interesse der Politik von ganz Europa liegen». Seither liefert die Schweiz das Musterbeispiel eines neutralen Staates. Und sie konnte die Neutralität länger wahren als jedes andere Land. Verschiedentlich wurde die Schweizer Neutralität völkerrechtlich bekräftigt, so beim Beitritt zum Völkerbund (1920), in der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) oder beim Uno-Beitritt (2002).

Traditionsballast?

Die Neutralität ist in der Schweizer Bevölkerung tief verankert. Jede Umfrage belegt es. [. . .] Die politische Elite ist weit skeptischer eingestellt. Ende der neunziger Jahre konstatierte eine Studie, in aussenpolitisch interessierten Zirkeln überwiege die Ablehnung. Man empfinde die Neutralität als einen Traditionsballast. [. . .] Warum dieser Unterschied zwischen der allgemeinen Bevölkerung und der obersten Bildungsschicht oder, grob gesprochen, der politischen Elite? Mir scheint es drei Gründe zu geben.

Der erste ist psychologischer Natur. Wer zu den Meinungsmachern gehören will, möchte originell sein und sich von der Allgemeinheit abheben. Er ist sozusagen dazu gezwungen. Denn unsere Gesellschaft prämiert das Neue. Die Neutralität zu bekräftigen, hat jedoch nichts Originelles an sich. Das macht man in der Schweiz seit Generationen. Damit kann man sich nicht als Trendsetter profilieren. Wer die Neutralität indes in Frage stellt, kann sich als kühner Vordenker aufspielen. Parlamentarier und Medienschaffende etwa stehen unter hohem Druck, sich originell zu geben, die Stimmbürger in ihrer Mehrheit dagegen nicht. Deshalb ziehen sie weit stärker das Bekannte dem Unbekannten vor, beweisen mehr Beharrungsvermögen als die Elite und sind weniger anfällig für Modetorheiten. [. . .]

Der zweite Grund hat viel mit Offenheit, aber auch dem Tatendrang und dem Ego von einzelnen Personen zu tun. Die Eliten möchten wesentlich stärker in der internationalen Politik mitmischen als das Volk. Das ist auch verständlich. Sie sind offener. Denn sie pflegen viel mehr Kontakte nach aussen. In Gesprächen mit ausländischen Kollegen lernt man, die nationalen Verhältnisse aus übergeordneter Sicht zu beurteilen. Damit neigt man auch dazu, die nationalen Standards den internationalen Gebräuchen anzupassen. Und mit der Integration ins internationale Umfeld nimmt naturgemäss der Wunsch zu, die Anpassungen nicht bloss zu erdulden, sondern sie aktiv mitzugestalten. Man möchte selber aufs grosse Umfeld Einfluss nehmen. [. . .]

Der dritte Grund dürfte im intellektuellen Appeal von Friedensordnungen liegen. Die Schichten mit höherer Bildung sind für solche Konstrukte wohl empfänglicher als Normalbürger. Schliesslich darf man von Führungskräften erwarten, dass sie auch in der Politik über den Tag hinaus denken. Und so liegt es nahe, dass mancher sich auch mit Friedensvisionen auseinandersetzt und gelegentlich der Vorstellung nachhängt, in der Welt von morgen würde eine allgemeine Friedensordnung die Neutralität überflüssig machen.

Gewiss ist die Neutralität selbst auch ein Baustein des Friedens. Wären alle Staaten neutral und hielten ihre Verpflichtungen ein, dann gäbe es keinen Krieg. Die Neutralität verkörpert auch Hoffnung. Denn sie macht nur Sinn, wenn man hoffen darf, dass der Frieden stärker ist als der Krieg. Aber die Neutralität enthält in ihrem Wesen auch etwas Irritierendes. Sie verweist eigentlich immer auf das Gegenteil desjenigen Zustands, der gerade vorherrscht: In Kriegszeiten gemahnt sie durch das Abseitsstehen an den Frieden, und im Frieden erinnert sie leise an die Möglichkeit eines Kriegs. Die Neutralität gedeiht nur im Schatten des Krieges. Sie bringt immer eine skeptische Grundhaltung zum Ausdruck: Sie verweigert sich dem Krieg, sie misstraut jedoch auch dem Frieden, zumindest dem Konstrukt vom ewigen Frieden. Sie gibt sich stets mit dem Vorläufigen, mit der zweitbesten Lösung zufrieden: dem brüchigen Frieden, den es zu bewahren gilt. Höheres strebt sie nicht an.

Die Schweiz hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit hohes Ansehen erworben.

Enthusiasmus kann eine derart vorsichtige Haltung nirgends erzeugen. Menschen möchten sich für hehre Ziele einsetzen. Es erstaunt deshalb nicht, dass in der politischen Elite der Wunsch weit verbreitet ist, sich aktiv an einer stabileren Friedensordnung zu beteiligen, als die Neutralität sie zu sichern vermag. Besonders ausgeprägt taucht dieser Wunsch jeweils am Ende eines grossen Krieges auf, wenn die Friedenssehnsucht die Völker überkommt. Auch die Schweiz wurde jedes Mal davon erfasst. [. . .]

Die Neutralitätskritiker, obschon nur eine kleine Minderheit, erhalten in den politischen Debatten viel Aufmerksamkeit. Das erstaunt nicht. Denn sie vertreten Ideen, die, würden sie umgesetzt, grösste Auswirkungen hätten. Sie würden das Schweizer Selbstverständnis im Kern treffen. Es mag intellektuell reizvoll sein, die Neutralität von Zeit zu Zeit in Frage zu stellen oder sie neu zu interpretieren. Aber politisch klug war es nie. Im Rückblick hatten immer jene recht, die eine bedeutsame Neutralität verteidigten. Das war 1815 so, das war 1938 so, und heute dürfte es kaum anders sein. [. . .]

Recht und Politik

Doch was bedeutet Neutralität? Der Begriff ist an sich klar und einfach. Seit der Renaissance bis ins 21. Jahrhundert verstand und versteht man darunter dasselbe, nämlich die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg. Am Anfang war Neutralität freilich eine Haltung, die man nur gelegentlich einnahm, dann nämlich, wenn wieder ein Krieg ausbrach. Zwischen den Kriegen dagegen war man nicht neutral. Es bestand ja auch kein Anlass dazu. Da die Schweiz indes durch Jahrhunderte in jedem Krieg eine Politik der Neutralität praktiziert hatte, ging man zu Beginn es 19. Jahrhunderts dazu über, dieses Verhalten als Ganzes auch normativ zu erfassen.

Man unterschied nun zwischen einer «gelegentlichen» oder «einfachen» und einer «dauernden» oder «immerwährenden» Neutralität. Erst jetzt entstanden neutrale Staaten im eigentlichen Sinn. Diese verpflichteten sich im Voraus, in jedem Krieg neutral zu bleiben. Und die anderen Staaten verpflichteten sich, dieses Privileg zu respektieren. Dafür muss der neutrale Staat auch im Frieden alles unterlassen, was ihn in einem künftigen Krieg daran hindern könnte, die Neutralität zu wahren. Das bedeutet insbesondere, dass er keinem militärischen Bündnis beitreten darf. Das erste nennenswerte Beispiel dieses neuen völkerrechtlichen Status ist die Anerkennung der immerwährenden Neutralität der Schweiz auf dem Wiener Kongress.

Fragwürdige Haltung im Kosovokrieg

Damit wurde die immerwährende Neutralität Teil des Völkerrechts. Die Rechte und Pflichten wurden im Wesentlichen in den Haager Abkommen von 1907 und in den Genfer Konventionen von 1949 präzisiert. Der neutrale Staat ist verpflichtet, sich an keinem Krieg zu beteiligen. Er darf auch keine Kriegspartei begünstigen. Ausserdem muss er alle neutralitätswidrigen Handlungen von Kriegsparteien auf seinem Hoheitsgebiet abwehren. Schliesslich muss er die Kriegsparteien, falls er Waffenlieferungen von Privaten zulässt, gleich behandeln. Diese völkerrechtlichen Regeln gelten nur für den Staat, nicht jedoch für Privatpersonen. So ist der neutrale Staat nicht gehalten, die Wirtschaftsbeziehungen von Privaten zu regulieren. Auch ist die Pressefreiheit oder die freie Meinungsäusserung der Bürger nicht betroffen. Es gibt keine Gesinnungsneutralität. Selbst der Staat darf sich kritisch über die Kriegsführenden äussern. Die Kriegsparteien ihrerseits sind verpflichtet, die Neutralität zu achten und sich jeder Verletzung neutralen Hoheitsgebiets zu enthalten.

Doch die Neutralität besteht nicht nur aus dem Neutralitätsrecht. Sie hat zwei Komponenten: das Neutralitätsrecht und die Neutralitätspolitik. Das Neutralitätsrecht hat an einem kleinen Ort Platz. Es enthält nicht viele Bestimmungen. Wer die Neutralität auf das Neutralitätsrecht reduziert, entkernt den Begriff. Neutralität bedeutete schon immer mehr als nur einen Zustand rechtlicher Verfasstheit. Die Gebote der Neutralitätspolitik sind umfassender, aber weniger griffig als das Neutralitätsrecht. Es sind Vorwirkungen, die der Neutrale im Frieden leistet im Hinblick auf einen möglichen Konflikt.

Neutralität ist eine aussenpolitische Haltung, die viel mit Glaubwürdigkeit zu tun hat. In der Tat besitzt die Neutralität nur ein Kapital, nämlich die Glaubwürdigkeit. Diese muss man sich im Frieden erwerben, um sie im Krieg zu besitzen. Und wie erwirbt man Glaubwürdigkeit? Mit einer konstanten und berechenbaren Politik. Derjenige, der die Neutralität eines Staates im Kriegsfall respektieren soll, muss davon überzeugt sein, dass sich der Neutrale im Krieg auch tatsächlich an seine Verpflichtungen hält.

Die Neutralität besitzt nur ein Kapital, nämlich ihre Glaubwürdigkeit.

Und wie gewinnt er diese Gewissheit? Indem der dauernd neutrale Staat schon in Friedenszeiten eine solche Politik verfolgt, die ihm im Krieg die Einhaltung der Neutralität in keiner Weise erschwert. Er wird sich aus freiem Willen mehr Zurückhaltung auferlegen, als das Neutralitätsrecht gebietet. Das hört sich leicht an, ist es aber nicht. In der Not des Krieges würde mancher Staat gern das Neutralitätsrecht anrufen, im Frieden dagegen will niemand seine eigene Handlungsfreiheit einschränken. Eine konstante Neutralitätspolitik zu verfolgen, ist selten populär.

Es darf sich auch die neutrale Schweiz in Friedenszeiten nicht alles erlauben, was das Neutralitätsrecht nicht verbietet. Sonst leidet ihre Glaubwürdigkeit. Mit einer strikten und konstanten Neutralitätspolitik hat sich die Schweiz namentlich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit hohes Ansehen erworben. Sie galt als der neutrale Staat par excellence. Seit dem Ende des Kalten Krieges zeigen indes führende Kreise wenig Verständnis für die Neutralität.

Nachdem der Ost-West-Konflikt als wichtigster Bezugsrahmen für die Neutralität weggefallen war, versuchten die Landesbehörden die Schweiz mit einer auf den juristischen Kern reduzierten Neutralitätspolitik in einer veränderten politischen Konstellation zu positionieren und für die europäische Integration und den Uno-Beitritt zu rüsten. Insbesondere leiteten sie die dringend erforderliche Annäherung an die EG beziehungsweise EU ein. Der Beitritt zum EWR scheiterte zwar in der Volksabstimmung von Ende 1992, der Bundesrat beschritt danach jedoch erfolgreich den bilateralen Weg. Auch führte er die Schweiz 2002 in die Uno – ein unproblematischer Schritt, nachdem die Weltorganisation alle Staaten der Erde umfasst und somit tatsächlich universellen Charakter aufweist.

Ob das Volk zugestimmt hätte?

Fragezeichen mag man hingegen hinter andere Beschlüsse setzen. Im November 1996 trat die Schweiz der von der Nato ins Leben gerufenen Partnerschaft für den Frieden bei. Auch wenn unser Land die Art der Beteiligung weitgehend nach eigenen Wünschen zusammenstellen konnte, fragt es sich doch, ob die neutrale Schweiz in die äussere Umlaufbahn eines militärischen Bündnisses gehört. Der damalige Vorsteher des Verteidigungsdepartementes, Bundesrat Kaspar Villiger, hegte erhebliche Bedenken. Eine Mehrheit im Bundesrat dachte jedoch anders. Sie beschloss den Beitritt. Der Entscheid wurde jedoch nie dem Volk vorgelegt. Das war gesetzeskonform, entsprach indes kaum der weitreichenden Bedeutung des Beschlusses. Ob das Volk der Vorlage zugestimmt hätte, darf man nach der Ablehnung der Blauhelmvorlage bezweifeln.

Im Frühling 1998 startete das Nato-Verteidigungsbündnis den ersten Angriffskrieg in seiner Geschichte. Es wollte die albanische Mehrheit aus dem brutalen serbischen Würgegriff befreien. Der Krieg gegen Serbien fand in Europa eine überwältigende Zustimmung. Aber ein Uno-Mandat lag zu Beginn nicht vor. Es war somit kein völkerrechtlich sanktionierter Krieg. Dennoch brachte die Schweiz viel Verständnis für das militärische Vorgehen auf. Mit keinem Wort verurteilte sie die Völkerrechtsverletzung.

Wenige Jahre später sollte sich eine ähnliche Situation im Irak einstellen. Wiederum wurde ein Krieg ohne Uno-Mandat begonnen, wiederum ging es darum, einem abscheulichen Diktator das Handwerk zu legen. Aber im Irakkrieg von 2003 verhielt sich die Schweiz anders. Sie verurteilte das völkerrechtswidrige Vorgehen der sogenannten Koalition der Willigen. Die Stellungnahme war gewiss gerechtfertigt. Aber sie wäre wesentlich glaubwürdiger ausgefallen, wenn die Schweiz schon im ersten Präzedenzfall ihre Stimme erhoben hätte. Ein neutraler Staat sollte sich durch ein konstantes Verhalten auszeichnen.

Die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität hat wegen der Geringachtung der Neutralitätspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges zweifelsohne gelitten. Die Verunsicherung kam 2005 vollends zum Vorschein, als der Bundesrat beantragte, ausgediente Schützenpanzer und anderes Kriegsmaterial an höchstproblematische Länder wie Pakistan, die Vereinigten Arabischen Emirate (zum Weiterverkauf an den Irak) und Südkorea zu liefern. Die Geschäfte kamen indes nicht zustande. Der Antrag verdutzte Volk und Parlament. Derlei Waffenlieferungen liessen sich nicht mit einer konsistenten Neutralitätspolitik vereinen.

Mochte der Antrag auch neutralitätsrechtlich – mit Ausnahme von Südkorea, das sich rechtlich immer noch mit Nordkorea im Kriegszustand befindet – allenfalls noch knapp durchgehen, so verstiess er gewiss gegen Landesrecht. Denn die Ausfuhr von Kriegsmaterial ist durch das Landesrecht restriktiver geregelt als durch das Völkerrecht. Das einschlägige Gesetz bestimmt, dass der Export den Grundsätzen der Aussenpolitik nicht widersprechen darf. Damit ist die Förderung von Frieden und von Menschenrechten, aber auch die Beachtung der Neutralität gemeint.

Aussenpolitik ist in erster Linie dazu da, um das Gedeihen des eigenen Landes zu ermöglichen.

Eine eigentliche Neutralitätsdebatte brach dann 2006 im Zusammenhang mit der Nahostkrise vom Zaun. [. . .] Es kam der Eindruck auf, als ob es innerhalb der Landesregierung zwei Auffassungen von Neutralität gebe, im Aussenministerium eine «aktive», im Gesamtbundesrat eine «passive». Was also hat es mit diesem Neutralitätsdisput, der sich anschliessend in den Medien hinzog, auf sich? Schauen wir zuerst den Neutralitätsbegriff etwas näher an.

Neutralität hat grundsätzlich etwas mit der Nichtteilnahme an einem Konflikt zu tun. Jemand, der sich für neutral erklärt, gibt zum Ausdruck, dass er in einem Konflikt keine der Streitparteien unterstützen will. Aber es gibt verschiedene Formen der Neutralität. Letztlich reduzieren sie sich auf zwei Grundtypen, die sich um das Kriterium der Entscheidung bilden. Der eine führt vom Entscheid weg, der andere dazu hin.

Der ursprünglichste Sinn von Neutralität bedeutet, dass jemand in einem Konfliktfall keinen Entscheid fällt. Er will sich aus einem Konflikt heraushalten. Deshalb wählt er die Neutralität. Aber es gibt auch eine zweite Bedeutung von Neutralität. Diese führt gerade zum Entscheid hin. Jemand ist berufen, einen Entscheid zu fällen, exakt, weil er neutral ist. Das ist die Neutralität des Richters. Diese Form von Neutralität schwebt auch der aktiven Neutralität vor. Denn sie möchte mit einer engagierten Politik helfen, Konflikte zu lösen oder zu mildern.

Machtprojektion im Rücken

Die entscheidungsberufene Neutralität ist freilich subsidiär. Zum Richter wird nur ein Kandidat erkoren, von dem man mit guten Gründen annimmt, dass er sich in einem Konflikt neutral verhält. Eine richterliche Funktion ist stets dem neutralen Verhalten nachgeordnet. Auch in diesem Typus bildet die Nichtteilnahme an einem Konflikt die Grundvoraussetzung für jede Art von Neutralität. Das gilt gleichfalls für die aktive Neutralität. Sie kann sich nur auf dem Boden einer hinreichend verstetigten passiven Neutralität entfalten. Wenn ein Kleinstaat, der keine grosse Armee zur Machtprojektion im Rücken hat, der Weltgemeinschaft Gute Dienste anbieten möchte, muss er sich zuerst mit einer strikten Neutralitätspraxis Glaubwürdigkeit erwerben.

Historisch gesehen, hat die Schweiz ihre Neutralität fast immer als passiv aufgefasst. Man sprach ja auch in der alten Eidgenossenschaft mehr von «Stillesitzen» als von «Neutralität». Aber einzelne Phasen, in denen zumindest der für auswärtige Angelegenheiten zuständige Bundesrat mit einer aktiven Rolle liebäugelte, gab es früher schon. [. . .] Wenn die Schweiz ihre Glaubwürdigkeit stärken will, dann muss sie sich neutralitätspolitisch wieder mehr Zurückhaltung auferlegen. Mindestens zwei Bereiche eignen sich hierfür.

Der eine betrifft die Verlautbarungen. Die Schweiz erschwert sich ihre Neutralitätspolitik mit zu vielen Communiqués. Der neutrale Staat hat das Recht, zu aussenpolitischen Vorgängen zu schweigen. Niemand kann ihm dies als Parteinahme auslegen. Wenn er jedoch täglich das Weltgeschehen kommentiert, wenn er am laufenden Band begrüsst, bedauert und verurteilt, dann setzt er sich selbst unter Zugzwang. Verurteilt er in einem Fall Menschenrechtsverletzungen und im anderen nicht, dann gerät er tatsächlich in den Verdacht der Parteilichkeit.

Der zweite Bereich betrifft die sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Die Schweiz hat sich in den letzten Jahren in kleinen und leisen Schritten der Nato angenähert. Mittlerweile nimmt sie sogar an der Planung von multinationalen Operationen teil. Aber gehört sich das für einen neutralen Staat? [. . .] Das Konzept der Neutralität ist universell. Es gilt nicht nur für die europäische Nachbarschaft. Vielmehr muss die Neutralität gegenüber allen angewandt werden. In arabischen Ländern etwa mag man hinter einige Formen unserer Zusammenarbeit mit Nato-Gremien ein Fragezeichen bezüglich unserer Neutralität setzen.

Die universelle Ausrichtung der Neutralität ist anspruchsvoll. Aber sie bietet auch grosse Chancen. Im aussereuropäischen Raum ist das Ansehen der Schweiz gerade wegen ihrer Neutralität im Allgemeinen hoch. [. . .] Der Reporter Ulrich Tilgner arbeitet für das deutsche und das Schweizer Fernsehen im Nahen Osten. Einst begehrte er ein Interview mit dem damaligen iranischen Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani. Dieser gewährte das Interview – jedoch nicht für das deutsche Fernsehen, sondern nur für die neutrale Schweiz.

Gute Dienste

Diese Episode bezeugt das Ansehen, welches die Schweiz im Iran geniesst. In anderen Ländern ist es ähnlich. Selbst einfachste Leute, von denen man annehmen würde, sie wüssten nicht einmal, wo die Schweiz liegt, überraschen manchmal mit Lob auf die Schweizer Neutralität. [. . .] Dieses über lange Zeit erworbene Kapital ist, wenn es sinnvoll betreut wird, auch in der heutigen Zeit ein politischer Wert. Es entfaltet sich nicht auf Kosten der westlichen Staatengemeinschaft, sondern ergänzt diese mit seiner Eigenart.

Neutralität erfordert Zurückhaltung bei Konflikten. Darum kommt kein neutraler Staat herum. Aber es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt. Dieser hat mit der Humanität zu tun. Der neutrale Status im Krieg ist ein grosses Privileg. Das hat die Schweiz schon früh so empfunden. Deshalb versucht sie seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 die Gunst des Schicksals mit zweierlei Massnahmen zu entgelten, mit politischen und mit humanitären. Auf der politischen Ebene erbringt sie sogenannte Gute Dienste, auf der humanitären Ebene ergänzt sie die Neutralität mit karitativer Hilfe und einem überzeugenden Einsatz für das humanitäre Völkerrecht. Das Schweizerkreuz und das Rote Kreuz gingen eine Partnerschaft ein, die weit über die Symbolik hinausreicht.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das humanitäre Völkerrecht stark ausgebaut. 1949 verabschiedete die Staatengemeinschaft die vier Genfer Konventionen. Es war dies die wichtigste Neuerung im humanitären Recht seit der Gründung des Roten Kreuzes im Jahr 1864. Während seiner langen IKRK-Präsidentschaft hatte sich Max Huber inständig dafür eingesetzt. Nachher folgten noch verschiedene andere Konventionen, beispielsweise das Uno-Übereinkommen gegen die Folter (1984) oder die Ottawa-Konvention, die Antipersonenminen verbietet (1999). Das humanitäre Völkerrecht hat fraglos an internationaler Akzeptanz gewonnen. Heute bestreitet kein Staat dessen Gültigkeit. In der Wirklichkeit sieht es allerdings weniger rosig aus. Zwischen Theorie und Praxis klafft oft eine schmerzliche Lücke.

Soll nun die Schweiz, die sich an vorderster Front für den Ausbau des humanitären Völkerrechts eingesetzt hat, bei schwerwiegenden Verletzungen aus Rücksicht auf ihre Neutralität schweigen? Oder soll sie ihre Stimme erheben? Kein Zweifel, sie soll schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht verurteilen. Was im Grundsatz von allen akzeptiert ist, dazu darf sich auch ein neutraler Staat äussern. Aber er sollte nur wohldosiert öffentlich Stellung nehmen, dafür mit bedeutungsvollen Erklärungen. Und vor allem: Wenn er es tut, dann muss er sich ausgewogen und sachkundig äussern. Er muss mit präzisen Fakten aufwarten. Er darf nicht einfach summarisch bedauern oder verurteilen. Sein Urteil muss überprüfbar sein. Auch darf er nicht auf innenpolitischen Applaus schielen. Sein Gang an die Öffentlichkeit darf nur im Dienst der Sache erfolgen. [. . .]

Die Schweizer Neutralität ist kein Allerweltsrezept. Sie ist auch kein Auslaufmodell. Gewiss eignet sie sich wenig zur Befriedigung von aussenpolitischen Ambitionen. Sie erweist indes ihre Nützlichkeit immer wieder, indem sie sich der Logik von Macht und Krieg verweigert. Ihr Element ist nicht die Leidenschaft, sondern die Besonnenheit. Sie zehrt vom Bewusstsein, dass alle Politik beschränkt ist, dass der Krieg als Möglichkeit nie auszuschliessen und der Friede als Ziel nie aufzugeben ist. Die Neutralität ist in erster Linie ein Produkt der Vernunft. Wie alles Vernünftige ist auch die Neutralität mit Mass und Bedacht zu handhaben. Geschieht dies, dann dürfte es um die Zukunft der Neutralität nicht schlecht bestellt sein.

Aussenpolitik ist in erster Linie dazu da, um das Gedeihen des eigenen Landes zu ermöglichen.

Paul Widmer ist ein Schweizer Diplomat und Publizist. Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus seinem Buch: Die Schweiz als Sonderfall. NZZ Libro, 256 S., Fr. 34.00

Erschienen in Weltwoche Nr. 18/22