Edgar Morin: Erkenntnisse aus einem 100-jährigen Leben. Edition Gai Saber. 106 S., Fr. 28.90

Edgar Morin:Von Krieg zu Krieg. Turia + Kant. 120 S., Fr. 21.90

Edgar Morin, der französische Philosoph und Sozialwissenschaftler, ist ein Jahrhundertmensch. Er wurde am 8. Juli 1921 in Paris geboren und hat vor kurzem seinen 103. Geburtstag gefeiert. Im Zweiten Weltkrieg engagierte er sich in der Résistance. Er legte damals zur eigenen Sicherheit seinen jüdischen Namen ab und nahm das Pseudonym «Morin» an, das er auch nach Kriegsende beibehielt. Im Centre national de la recherche scientifique begann er nach einigen Arbeitsjahren im besetzten Deutschland seine lange Karriere als Sozialwissenschaftler.

Lebenslang fühlte er sich der Linken verbunden, zunächst der Kommunistischen Partei, später der undogmatischen marxistischen Gruppe «Socialisme ou barbarie».

Seine letzten beiden Bücher, die er – schon über hundert Jahre alt – verfasste, sind nun ins Deutsche übersetzt worden. In seinen Reflexionen über sein langes Leben beantwortet er die Frage nach seiner Identität: «Wer bin ich? Ich antworte: Ich bin ein menschliches Wesen. Das ist meine Hauptbezeichnung. Doch beschreiben mich mehrere Eigenschaften, deren Gewicht je nach Umständen variiert: Ich bin Franzose, von sephardisch-jüdischer, teilweise italienischer und spanischer Herkunft, bin durchweg mediterran, der Kultur nach Europäer, Weltbürger, ein Kind des Heimatlandes Erde.»

 

Weltbürger und Humanist

Dementsprechend hat er lebenslang Mühe mit den Mächtigen und den etablierten Kräften. Auch sein Versuch, sich in Israel eine Heimat zu schaffen, scheiterte. Sein Unrechtsbewusstsein rebellierte gegen den Umgang mit den Palästinensern: «Ich gab meine Suche nach Wurzeln in dieser Nation auf.» «Als einer der letzten jüdischen Intellektuellen, die universalistisch und antikolonial eingestellt waren», musste er «die Kolonisierung des arabischen Palästinas» ablehnen. Auch mit der Kommunistischen Partei Frankreichs überwarf er sich. «Man muss Einsamkeit und Abseitsstehen aushalten, wenn die Wahrheit der Fakten und die Ehre auf dem Spiel stehen. Man muss Unverständnis ertragen können und darf nicht in Verwünschungen, Wahnvorstellungen und Hass verfallen.»

Er versucht, seine Stimme für einen Ausgleich zwischen Russland und der Ukraine zu erheben.

Der Zeitgenosse und Freund von Georges Friedmann, Henri Lefebvre, Maurice Merleau-Ponty und Jacques Monod ist Weltbürger und Humanist. Als Soziologe weiss er um die Komplexität des Lebens und zieht daraus die schöne Konsequenz, «dass das Bewusstsein für die menschliche Komplexität zu Wohlwollen führt. Das Wohlwollen erlaubte uns, bei anderen nicht nur die Fehler und Unzulänglichkeiten zu sehen, sondern auch die Vorzüge.»

 

Gefahr eines dritten Weltkriegs

Obwohl er es als Soziologe mit sogenannt festen Zuständen zu tun hat, mit gesellschaftlichen Strukturen, Kontinuitäten und geronnenen Verhältnissen, erinnert er an die Endlichkeit und Brüchigkeit des Lebens: «Es ist unmöglich, das Zufällige aus dem Menschlichen auszuschliessen. Unser Schicksal ist unsicher, und wir müssen auf Unerwartetes gefasst sein.» Das bezeichnet er als eine der wichtigsten Erkenntnisse seines Lebens.

Morin war lebenslang ein Gegner alles Kriegerischen und stets auf Versöhnung bedacht. So ging er nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland, um den ehemaligen Feind kennenzulernen und zu verstehen; daraus entstand damals ein sehr bemerkenswertes Buch.

Jetzt beschäftigt er sich in «Von Krieg zu Krieg» ausführlich mit dem Krieg in der Ukraine. Auch wenn es nicht opportun ist, versucht Morin, seine Stimme für einen Ausgleich zwischen Russland und der Ukraine zu erheben. Dazu gehört sein Vorschlag, dass die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt und garantiert werden müsse und dass auf der Gegenseite der Donbass einem Referendum unter internationaler Kontrolle unterworfen werden solle, während die Krim zu Russland zurückkehren sollte.

«Die Dringlichkeit ist gross: Dieser Krieg verursacht eine gewaltige Krise», die laut Morin in einen dritten Weltkrieg ausufern könnte.