Chappell Roan: The Rise and Fall of a Midwest Princess

Sie ist in den letzten paar Monaten kometenhaft aufgestiegen. Anfang Jahr kannten sie bloss Eingeweihte, im Oktober ziert sie das Titelblatt von Rolling Stone. Das ist zwar nicht mehr ganz so toll wie in den siebziger Jahren, als Dr. Hook & the Medicine Show diesen medialen Ritterschlag in ihrem Hit «The Cover of ‹Rolling Stone›» besangen. Ein Restnimbus ist geblieben. Aus den Rittern von damals sind immer mehr Prinzessinnen geworden. Zumindest sieht sich Chappell Roan als eine solche, glaubt man dem dramatischen Titel ihres ersten Albums, das sich derzeit an der Spitze der amerikanischen Hitparade bewegt. Auch in der Schweiz ist «The Rise and Fall of a Midwest Princess» im Kommen.

 

Betreutes Popstar-Dasein

«A Star Is Born», lautet der Rolling Stone-Titel in Anlehnung an den Musicalfilm-Klassiker, aber auch an Lady Gaga, die in dessen Remake 2018 grandios die Hauptrolle spielte. Roan schaut zwar fast so wild aus wie Gaga, sie klingt aber zahm. Mit dieser Masche fängt sie ihr Publikum, von dem sie an den Sommerfestivals zum Popstar hochgejubelt wurde. In unzähligen Porträts, die seither über sie erschienen sind, geht es vielfach nur am Rand um Roans Musik. Nicht die coole Pop-Erfolgsgeschichte ist das Thema, sondern die offenbar problembeladene Biografie der 26-jährigen Amerikanerin.

Ihr prototypischer Lebensentwurf könnte aus einem Polit-Labor für progressive, junge amerikanische Demokratinnen stammen. Dem konservativen weissen Elternhaus in Missouri entfloh Roan nach Los Angeles, jetzt ist sie «aufgeschlossen»: liberal, drag and queer – ein weniger auffälliges Wort für lesbisch. Den Reinheitsring ihrer Jugend trägt sie allerdings immer noch, weil er zu schön sei, ihn nicht zu tragen. Anything goes.

Roan ist eine Frau, die auf Ratschläge von Plattenfirmen pfeift, bewusst auf ihre innere Stimme hört und bei Pro-Palästina-Protesten mitmacht. Ihr Seelenunheil macht sie gerne publik, was dem Trend junger Frauen entspricht, stark zu sein, indem sie Schwäche zeigen. Früher betäubten Musiker ihre Unsicherheit gerne mit Unmengen von Alkohol und Drogen, bei Roan ist alles sauber diagnostiziert und abgestimmt. Sie war in verschiedenen Behandlungen, der klinische Befund lautet «Bipolar-II-Störung», sie muss Medikamente nehmen und geht zweimal pro Woche zu ihrem Therapeuten. Man kann das «betreutes Popstar-Dasein» nennen.

Ihr Lebensentwurf könnte aus einem Politlabor für junge amerikanische Demokratinnen stammen.

Roans Flirt mit der Gesellschaftspolitik der liberals wird von den demokratischen Präsidentschaftswahlkämpfern mit Handkuss angenommen: Ihr Song «Femininomenon», ein Wortspiel aus «feminin» und «Phänomen», begleitet die Tiktok-Kampagne von Kamala Harris, Roans «Midwest Princess»-Mütze hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem «Harris-Walz»-Käppi, und ihr allerjüngster Hit «Good Luck, Babe» diente als Soundteppich der Delegation aus Missouri beim Parteitag der Demokraten von Mitte August. Sie ist für den Wahlkampf wie gemacht.

Die Lieder von Roan, die bürgerlich Kayleigh Rose Amstutz heisst – ihre Wurzeln gehen auf Schweizer Auswanderer im 19. Jahrhundert zurück –, sind ansprechend komponierte Popsongs mit erstaunlich wenig eigenem Charakter. Sie klingen so, als träfen sich Taylor Swift, Katie Perry und Olivia Rodrigo zum gemeinsamen Musizieren. Produziert hat die Platte Dan Nigro, der auch mit Rodrigo oder Kylie Minogue zusammenarbeitet. Das Auffälligste am Album ist – neben der pompösen Aufmachung Chappell Roans – die Vielfältigkeit der musikalischen Stilrichtungen. Langweilig ist «The Rise and Fall of a Midwest Princess» nicht.