Wenn es um Fragen zu den sogenannten Ewigkeitsstoffen PFAS geht, zählt der deutsch-schweizerische Umweltchemiker Martin Scheringer von der ETH Zürich zu denWissenschaftlern, die Diskussionen in Medien und Politik mitprägen. Er studierte in Mainz, machte seine Dissertation und 2004 die Habilitation an der ETH Zürich zum Themenkreis persistente Chemikalien und Umwelt. Seit 2005 ist er Privatdozent an der ETH Zürich am Departement für Umweltwissenschaften im Fach -organische Umweltchemie. Scheringer ist zudem breit engagiert in wissenschaftlichen Gremien, er zählt beispielsweise zu den Experten des Stockholmer Übereinkommens sowie des International Panel on Chemical Pollution, das er präsidiert. Wir treffen ihn zum Gespräch in seinem Büro an der ETH Zürich.
Weltwoche: Herr Scheringer, in der Industrie laufen intensive Diskussionen über allfällige Verbote von chemischen Stoffen namens PFAS. In Umweltdebatten ist PFAS ein Reizwort, Medien haben Kampagnen dazu lanciert, Langlaufsportler werden disqualifiziert, wenn ihre Wachse fluorhaltig sind. Was muss man sich unter dem Begriff, der so technisch tönt, vorstellen?
Martin Scheringer: Die sogenannten PFAS sind, technisch gesprochen, chemische Substanzen, die an wichtigen Stellen Fluoratome haben, also bestimmte Fluor-Kohlenstoff-Verbindungen aufweisen. Die sind jetzt im Gespräch, weil sie überall vorkommen, weil man sie im Wasser, im Boden, in der Nahrung und eben auch im menschlichen Körper findet.
Weltwoche: Seit wann ist die ganze Thematik aktuell?
Scheringer: Die Problematik der PFAS hat vor allem über die letzten fünf Jahre an Dynamik gewonnen, und verstärkt an die Öffentlichkeit gedrungen ist sie in den vergangenen ein, zwei Jahren. Dies vor allem auch im Zusammenhang mit Diskussionen über ein allfälliges Verbot sowie mit einer Publikation eines Journalistenkonsortiums, das unter dem Titel «Forever Pollution Project» im -Februar 2023 erschienen ist.
Weltwoche: Medien haben selber Umwelt-analysen betrieben?
Scheringer: Das Konsortium unter der Leitung der französischen Zeitung Le Monde hat im Wesentlichen Daten zusammengetragen, die bereits verfügbar waren, und diese aufbereitet, etwa in Form von interaktiven Landkarten mit den bekannten Verschmutzungsorten in den verschiedenen Ländern, so auch in der Schweiz.
Weltwoche: Was sind die Eigenschaften -dieser Substanzen?
Scheringer: All diese Substanzen haben eine gemeinsame, einheitliche Eigenschaft, das ist die enorme Stabilität der Verbindungen. Bildlich gesagt: Es sind Ketten aus Kohlenstoffatomen, die überall, wo es noch freie Stellen hat, Fluor tragen. Und die Bindung zwischen Kohlenstoff und Fluor ist so fest, dass es in der Umwelt keinen Prozess gibt, der genug Energie aufbringt, um diese zu brechen. Wir nennen das in der Fachsprache Persistenz. Das bedeutet, dass diese -Stoffe in der Umwelt nicht abgebaut werden.
Weltwoche: Wie sehen diese aus?
Scheringer: Es sind sehr viele verschiedene Stoffe und Strukturen. Zum Teil sind es Polymere, also Kunststoffe, die aussehen wie normales Plastik. Zum Teil sind es Flüssigkeiten, Pulver oder auch Gase. Weil die Definition so breit ist, dass sie ganz viele verschiedene Sub-stanzen umfasst, führt das zum Problem, dass man beim Thema PFAS letztlich über zahlreiche verschiedene Dinge spricht.
Weltwoche: Aber eben doch erst seit jüngerer Zeit, obwohl es sie schon lange gibt.
Scheringer: Man hat die Substanzen in der Umwelt lange Zeit nicht wahrgenommen, nicht gemessen, weil man zum Teil die analytischen Möglichkeiten nicht hatte, um diese zu entdecken. Im Jahr 2001 erschien dann eine wissenschaftliche Publikation, die für die Umweltchemie so etwas wie den Startschuss markierte. Damals wurden erstmals die Verbindungen PFOA und PFOS sowie zwei weitere PFAS in zahlreichen Umweltproben nachgewiesen, an Standorten aus allen Gebieten der Welt. Auch in Proben aus dem menschlichen Körper, aus Blut- oder Fettgewebe, wurden die Stoffe festgestellt, und zwar überall.
Weltwoche: Das war vorher nicht bekannt?
Scheringer: Die Autoren dieser Publikation wussten, dass es eine solche Verbreitung gibt, da die Stoffe schon seit den 1950er Jahren hergestellt werden. Es gab auch schon früher Untersuchungen, aber eher interne bei Firmen, also nicht umfassende Bestandesaufnahmen. Die Unternehmen haben zum Teil sehr aufwendige toxikologische Untersuchungen durchgeführt, sogar mit Affen, also hochstehenden Lebewesen, und -Ratten, um Zusammenhänge zwischen Dosierungen und Leberschädigungen oder Krebs zu ermitteln. Aber es gab damals keinen Mechanismus, der zum öffentlichen Testen und Rapportieren zwang.
Weltwoche: Die Vorteile dieser Verbin-dungen sind eben auch sehr gewichtig.
Scheringer: Ja, sie bieten viele erwünschte Eigenschaften. Die Produkte sind widerstandsfähig, wasserabweisend, ideal für -Isolierungen und Imprägnierungen, zudem schmutz- und fettabweisend. Sie wurden vielfältig eingesetzt für Teppiche, Spannteppiche, Bekleidung und andere Textilien, auch für Möbel, Flugzeugsitze, Anwendungen in der Medizin, für Kletterseile, die sich nicht vollsaugen sollen. Eine weitere wichtige -Anwendung waren Feuerlöschschäume, auch in der Schweiz, etwa in Flughäfen und Militäranlagen. Diese Verbindungen sind so stabil, dass sie Flugzeugbenzin in vollem Brand sozusagen «ersticken» können.
Weltwoche: Was änderte sich mit diesem Startschuss?
Scheringer: Die wissenschaftliche Untersuchung von 2001 hat die Wissenschaft, aber auch die Behörden und die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Sie zeigte erstmals auf breiter Basis, dass die Stoffe fast überall vorhanden sind, in Tieren an Land und im Wasser, in Menschen und in Pflanzen, in Leber, Blut, Milch, Fettgewebe.
Weltwoche: Was bewirken denn die PFAS im Körper?
Scheringer: Man hat ein breites Spektrum an Wirkungen gefunden. Bildlich kann man es so sagen: Es ist ein bisschen so, wie wenn Sand ins Getriebe und in den Motor kommt. An allen möglichen Stellen leiden die Teile, wenn dies auf Dauer geschieht.
Weltwoche: Das Bild ist also etwas diffus?
Scheringer: Die PFAS haben nicht einen einzigen dominanten Wirkmechanismus, wie er sich bei einem Pestizid zeigt, das sich in biologische Vorgänge einschaltet und dann die Atmung oder andere Prozesse blockiert. PFAS gelangen im Körper überall hin, bleiben dann auch längere Zeit dort, und wenn sie ausgeschieden werden, dann oft nur langsam.
Weltwoche: Und die konkreten Folgen?
Scheringer: Man kennt Leberschäden, Nierenschäden, es gibt bei Menschen Hodenkrebs, verminderte Immunantwort bei Impfungen, Probleme mit der Schilddrüse, mit dem ganzen Fettstoffwechsel, bei Männern eine verminderte Spermienzahl. In Tier-versuchen und auch bei -Menschen gibt es Beobachtungen eines verminderten Geburtsgewichts. Es sind zahlreiche verschiedene Effekte, die sich alle langsam entwickeln, aber durch die lange Verweilzeit der PFAS im Körper entsprechende Wirkungen auslösen können.
Weltwoche: Wo kommt das Fluor eigentlich ursprünglich her?
Scheringer: Fluor kommt aus dem -Mineral Flussspat, dem Calciumfluorid. Das muss aufgeschlossen werden unter Einsatz von viel Energie, was auch chemisch anspruchsvoll und schwierig ist. Deswegen sind es nur eine Handvoll Hersteller, die entsprechend investiert haben.
Weltwoche: In welchen Ländern sind diese Firmen angesiedelt?
Scheringer: In Europa betrifft dies -Belgien, die Niederlande, Italien und Deutschland. Gross ist diese Industrie in China und in Japan, sodann auch in den USA.
Weltwoche: Aber Produkte mit PFAS-Anteil gibt es x Tausende?
Scheringer: So kann man es nicht sagen. Wir haben in unserer Gruppe an der ETH ermittelt, wie viele PFAS eigentlich in der EU auf dem Markt sind. Und das sind wahrscheinlich weniger als tausend. Weltweit sind es mehr, in China sind sie vermutlich besonders zahlreich. Aber auf dem Markt sind nicht Zehntausende von Stoffen, zumal viele Produkte sich sehr ähnlich sind und oft auch verschiedene Strukturen für denselben Zweck eingesetzt werden.
Weltwoche: Was waren bisher die Reaktionen der Industrie?
Scheringer: Im Zeitablauf gesehen, war eine erste Reaktion der Firmen darauf, sich auf -weniger lange Fluor-Kohlenwasserstoff-Ketten zu verlegen, weil dann die Anreicherung im Gewebe und vor allem in der Leber weniger stark ausfallen dürfte. Man hat die -chemischen Ketten beispielsweise von acht oder sieben auf sechs fluorierte Kohlenstoffatome verkürzt, damit aber ähnliche Produkte hergestellt wie vorher.
Weltwoche: Und die Wirkung ?
Scheringer: Dieser erste Schritt beim Versuch, die problematischen Eigenschaften einzudämmen, verringerte auch die Wirksamkeit der Stoffe, so dass man dann zum Teil höhere Mengen davon einsetzen musste. Und es -zeigte sich, dass die kürzeren Ketten sowie auch gewisse Ersatzstoffe mit den andern Substanzen die Belastungen nicht wesentlich reduzierten. Die Produkte waren eben immer noch ähnlich wie vorher und die damit verbundenen Prozessführungen ebenfalls.
Weltwoche: So sind die Vorschläge zum Verbieten irgendwann in den Vordergrund getreten?
Scheringer: Ja, vor allem auch, weil sich gezeigt hat, dass viele solche Produkte in offenen Anwendungen im Umlauf waren oder sind. Offen heisst, dass die Freisetzung nicht begrenzt war, etwa durch technische Anlagen oder durch eingeschränkte Verfügbarkeit. Offene Anwendungen sind zum Beispiel die Imprägniersprays, die wir alle benutzen, dann Zahnseide, Skiwachs oder Feuerlöschschaum. Die starke Persistenz, die Nichtabbaubarkeit der Stoffe, birgt in offenen Anwendungen zu hohe Risiken. Das passt nicht zusammen.
Weltwoche: Es werden also Verbote oder Kontrollmechanismen gefordert?
Scheringer: Man kann solche Stoffe dann in bestimmtem Rahmen einsetzen, wenn streng darauf geachtet wird, dass es keine Freisetzungen gibt.
Weltwoche: Bedeutet das, dass die Regulierung hauptsächlich in Richtung Verbote geht?
Scheringer: Bisher gab es bereits -einige Ansätze der Branche zur freiwilligen Beschränkung. Die Firmen haben zum Beispiel die problematische Form PFOA ersetzt durch andere solche Emulgatoren in der Teflon-herstellung. Einige Gliedstaaten der USA haben sich nun jedoch ans Erlassen von Verboten gemacht, und in Europa gibt es einzelne erste -Verbote der PFAS.
Weltwoche: Und keine weltweite Regelung?
Scheringer: Doch, auf globaler Ebene wurde 2009 im Rahmen des Stockholmer Übereinkommens eine völkerrechtliche Übereinkunft für den Umgang mit diesen Stoffen beschlossen. Es geht dabei um besonders stabile, resistente Schadstoffe, in diesem Zusammenhang wurden zwei Verbote der Formen PFOS und PFOA vereinbart.
Weltwoche: Reicht das heute nicht mehr?
Scheringer: Da es in diesem Bereich um viele Produkte geht, die zahlreiche Varianten umfassen, war das nur die Spitze des Eisbergs. Das führte dann zur Idee, dass man dies breiter regulieren müsse, und schliesslich hat die EU einen Vorschlag gemacht, die PFAS als ganze Klasse zu regulieren.
Weltwoche: Was bedeutet, zu verbieten?
Scheringer: Nicht per se zu verbieten, sondern zu regulieren. Es ist ein Vorschlag für eine Beschränkung, so lautet der offizielle Begriff der EU. Gegenstand der Vorlage ist nicht einfach ein Einzelstoff, sondern die ganze Gruppe; das ist von zentraler Bedeutung. Veröffentlicht wurde der Vorschlag Anfang 2023, etwa zur gleichen Zeit wie das journalistische Projekt «Forever Pollution». Es gab im vergangenen Jahr dazu eine öffentliche Konsultation, bei der sehr viele Eingaben gemacht wurden, über 5500 Wortmeldungen gingen ein.
Weltwoche: Es gibt viel Kritik am Vorschlag.
Scheringer: Zum Teil zu Unrecht, denke ich. Denn man hat meiner Meinung nach die Zusammenhänge recht gründlich angeschaut. Das Hauptdossier umfasst 224 Seiten, dazu kommen die Anhänge mit Hunderten von Seiten, auf denen die Verwendungen und Alternativen aufgeführt werden. Man soll PFAS eigentlich überall beschränken und nur dort einsetzen, wo sie eben wirklich essenziell sind, so der -verwendete Begriff. Es ist klar, dass diese Ausnahmen -notwendig sind.
Weltwoche: Breite Verbote stehen doch im Widerspruch zur Technologieoffenheit.
Scheringer: Nein, vielmehr würde das starre Festhalten an PFAS gegen das Prinzip der Technologieoffenheit verstossen. PFAS sollen, wie gesagt, dort eingesetzt -werden, wo ihre Verwendung essenziell ist, was unter anderem bedeutet, dass es bisher keine Alternativen gibt und dass die Verwendung -wirklich wichtig ist.
Weltwoche: Wo also?
Scheringer: In den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, nicht aber, wenn es um Convenience geht, wie etwa bei Skiwachs oder auch Kochgeschirr. Wo es Alternativen gibt, -sollte man unbedingt zu diesen Alternativen übergehen. Dies ist der Fall bei allen Anwendungen in Konsumentenprodukten, weil dort PFAS nur der Convenience dienen. Die Medizinaltechnik dagegen zählt zu den essenziellen PFAS-Anwendungen.
Weltwoche: Sehen Sie sich gegenüber den Firmen in einer Rolle als Kontrolleur?
Scheringer: Ich sehe meine Rolle beziehungsweise die Rolle der Wissenschaft unter anderem darin, den Unternehmen eine Art Hilfestellung zu geben, sie ein Stück weit auch zu warnen, wenn es geboten erscheint. Und zudem auch in der Rolle, Innovationen vorantreiben, nach Innovationen zu fragen, auch zu fordern, dass in dieser Hinsicht -Anstrengungen erfolgen.
Weltwoche: Damit werden Sie von den Gewinnern des Strukturwandels sicher freundlicher betrachtet als von den Verlierern.
Scheringer: Es gibt Gewinner und Verlierer, ja, aber das ist immer auch eine Frage der Übergangszeiten. Der zur Diskussion -stehende Beschränkungsvorschlag sieht unter anderem zehnjährige Anpassungszeiten vor, da kann sich viel Neues ergeben. Es gibt spannende Entwicklungen, wie etwa PFAS-freie Batterien einer Schweizer Firma. Wenn man die Entwicklung längerfristig betrachtet, so gab es vor fünfzehn Jahren noch keinen einzigen Tesla auf Europas Strassen. Man -sollte das Potenzial von Forschung und Entwicklung also nicht unterschätzen.